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Seegrund

Seegrund

Titel: Seegrund
Autoren: Kobr Michael Kluepfel Volker
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Großzügigkeit von der Tatsache befördert wurde, dass sich sein Appetit inzwischen zu einem quälenden Hungergefühl ausgewachsen hatte. Er deutete auf ein altes Gasthaus, dessen Umrisse man durch die kahlen Äste der Laubbäume hinter dem Parkplatz vor dem See sehen konnte. Dort mussten die vier jedoch feststellen, dass aus der Brotzeit zunächst nichts werden würde: Das Restaurant öffnete erst um vierzehn Uhr. Wohl oder übel entschlossen sie sich, noch eine Runde um den See zu drehen.
    Der Alatsee lag idyllisch in einem kleinen Kessel, von allen Seiten mit dichtem Wald umgeben. An der Südostseite ragte majestätisch der Gipfel des Säulings über den Bäumen auf. Es war ein Tag, wie gemacht für Fotografen, um diese kitschigen, aber doch irgendwie beeindruckenden Bilder zu schießen, die man in den Kalendern fand, die von Banken, Apotheken und Tankstellen verschenkt wurden, dachte sich Kluftinger: Der kleine Bergsee glänzte in der Sonne, die von einem wolkenlosen Himmel schien.
    Immer wieder rieselten glitzernde Flocken von den Ästen der Bäume auf sie herab. Unter ihren Füßen knirschte der Schnee, die Luft war klar und rein.
    »Herrlich, oder? Kein einziger Tourist da heroben!«, jubilierte Kluftinger. Er war stolz. Stolz auf »sein« Allgäu, das so schön sein konnte, dass er sich manchmal selbst wie ein staunender Tourist vorkam. Und stolz darauf, dass er es heute einem ausländischen Gast präsentieren konnte.
    »Ob es wohl weiße Weihnachten gibt?«, wollte Yumiko wissen, die von dem Anblick der pittoresken Landschaft sichtlich verzaubert war.
    Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie voller Überschwang fort: »Hoffentlich taut der Schnee nicht weg. Dort, wo wir in Japan wohnen, gibt es nie Schnee an Weihnachten.«
    Kluftinger holte gerade Luft, um Yumiko davon zu unterrichten, dass weiße Weihnachten hier zum guten Ton gehörten, da merkte er, dass ihr Blick starr wurde und sie mit geweiteten Augen an ihm vorbei sah.
    Scheint sie ja nicht sonderlich zu interessieren, wie’s bei uns hier so zugeht, dachte er ärgerlich und wollte sich schon abwenden, als er sah, wie sie ihre ohnehin schon schmalen Lippen so stark aufeinander presste, dass nur noch ein dünner Strich sichtbar war. Ihr Gesicht wurde aschfahl. Dann begann ihr Unterkiefer zu zittern. Kluftinger bekam eine Gänsehaut: Irgendetwas schien der Freundin seines Sohnes schreckliche Angst einzujagen.
    Langsam drehte er sich in die Richtung, in die Yumiko starrte. Während dieser langsamen Bewegung fragte er sich, was die Japanerin so erschreckt haben könnte, hier, in der idyllischen Kulisse eines Allgäuer Bergsees. Er versuchte, sich vorzubereiten auf das, was er gleich sehen würde: Vielleicht ein totes Eichhörnchen? Ein verendetes Reh? Doch irgendwie ahnte er, dass der Schrecken in den dunkelbraunen Augen der jungen Frau von etwas Schlimmerem herrühren musste. Und dann sah es auch er.
    Mit einem Schlag schien es kälter als zuvor. Sein Blick wurde ebenso starr wie der von Yumiko. Er schluckte, schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie wieder – was er sah, war real: Etwa zehn Meter entfernt, nur wenige Schritte vom Seeufer, lag ein Mann im Schnee. Er steckte in einem eng anliegenden schwarzen Anzug und lag auf dem Bauch, die Arme weit vom Körper weggestreckt. Er war nicht besonders groß, wirkte aber muskulös. Der Kopf lag so, dass der Kommissar das Gesicht nicht sehen konnte. Dunkelblondes Haar klebte nass am Schädel des jungen Mannes. Doch Kluftingers und Yumikos Aufmerksamkeit wurde von einem anderen Detail gefangen genommen: In einem Radius von beinahe zwei Metern um den Körper hatte sich der Schnee dunkelrot verfärbt. Offensichtlich lag der Mann in einer unvorstellbar großen Blutlache.
    »Scheiße«, flüsterte Yumiko und riss Kluftinger damit aus seiner Erstarrung. Er drehte sich zu ihr um und versperrte ihr die Sicht.
    »Schau nicht hin«, sagte er, doch sie neigte den Kopf und blickte an ihm vorbei. Unbeholfen nahm er sie bei den Schultern und drehte sie von dem grauenvollen Anblick weg.
    »Na, ihr scheint euch ja schon gut zu versteh …« Markus und Erika hatten zu ihnen aufgeschlossen. Abrupt brach Markus seinen Satz ab, öffnete den Mund und drehte sich dann blitzschnell zu seiner Mutter um.
    »Nicht, Mama! Schau nicht hin!«
    Sie erkannte an der Stimme ihres Sohnes, dass er es ernst meinte, wagte aber trotzdem einen Blick an ihm vorbei. Ihr Unterkiefer klappte herunter und ihre Augen weiteten sich. Zu Tode
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