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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Leben?« Er besann sich. »Nein, du hast Recht. Im Vergleich zu dir ist mein Leben stinknormal. Ich schwöre…« Mit den Fingern machte er ein V-Zeichen. »Ich werde nie mehr über die Verrückten von Berlin klagen.«
    Das Mädchen brachte den Salat: Gurken, Tomaten, Eier, Käse und ein Toastbrot. Auch ohne Chicken machte er einen appetitlichen Eindruck. Augenblicklich fiel Philip über den Salat her. »Kann ich das schriftlich haben?«, fragte er.
    »Man spricht nicht mit vollem Mund.«
    »Man macht auch keine Versprechen, die man nicht halten kann.«
    »Piss doch die Wand an.«
    Sie lachten. Solange sie die eisigen Böen draußen vor dem Fenster ausblendeten und auch über das fehlende Chicken im Salat hinwegsahen, war es fast wie in alten Tagen. Philip sehnte sich so sehr danach, mit seinem Kumpel zu albern, zu quatschen, zu lästern, zu lachen. Ganz normale Dinge eben.
    »Ich hab einen Job«, teilte Ken mit.
    »Glückwunsch. Und wo?«
    Ken strahlte. »Bei einem Bad-Chinesen.«
    Philip hielt in der Bewegung inne. »Einem was?«
    »Na, einem Badezimmer-Chinesen.«
    Philip rollte mit den Augen. »Was ist das denn jetzt wieder?«
    »Ist dir das noch nie aufgefallen?«
    Philip war seinem Freund dankbar dafür, dass er das Gefühl der Normalität aufrecht hielt. Genau das brauchte er jetzt. Auch wenn es nur für den Moment war. Später konnte er sich über alles andere einen Kopf machen. Er sagte: »Ich war schon ewig nicht mehr in einem China-Restaurant, und das Einzige, was mir dort beim letzten Mal aufgefallen ist: Die Reisportionen sind so gewaltig, dass man sie nie und nimmer alleine aufessen kann.«
    »Nein, nicht so was. Warte, ich erklär’s dir.«
    »Ich bin gespannt.«
    »Wenn du beim nächsten Mal in die Provinz fährst, wirf einen Blick in die China-Restaurants: Sie überbieten sich mit chinesischen Schnörkeln, meist in Rot, Drachen, Pagoden und anderem pseudoasiatischen Firlefanz. Und ein Chinese in Berlin?«
    Philip riet ins Blaue hinein: »Ein Bad-Chinese.«
    »Genau, genau, genau«, rief Ken.
    »Und was soll das sein?«
    »Weiße Fliesen auf dem Boden, weiße Fliesen an der Wand, weiße Fliesen an der Theke – wie in einem Badezimmer. Dazu ein Wok, groß wie eine Kloschüssel, in dem schnell gekocht wird. Und zack, landet die Brühe auch schon auf deinem Teller.«
    Philip lachte schallend. Er wusste, dass ihn Kens Albernheiten an einem anderen Tag wahrscheinlich ziemlich genervt hätten, aber heute waren sie Balsam für seine aufgekratzte Seele.
    »Ken«, sagte er. Jetzt war der richtige Augenblick, das eigentliche Thema anzuschneiden. »Ich würde gerne mit Chris reden. Meinst du, sie würde…« Etwas an Kens Miene ließ ihn abrupt verstummen.
    Ken presste die Lippen aufeinander. Normalerweise herrschte im Habana ein vielstimmiges Gemurmel. Heute drängte sich ihnen nur die Musik aus den Lautsprecherboxen auf. Es verging eine Weile, bis Ken sprach: »Darüber wollte ich auch noch mit dir reden.«
    »Worüber?« Es klang schärfer als beabsichtigt.
    Wieder zog der Sekundenzeiger einige Kreise, bis Ken weiter sprach. »Über meine Schwester.«
    »Wieso?« Philips Appetit verschwand. »Was ist mit ihr?«
    »Keine Panik«, beschwichtigte sein Freund. »Sie hat mich gebeten, dir zu sagen, du sollst sie anrufen.«
    War das ein gutes oder ein schlechtes Omen? Plötzlich rumorte es in Philips Magen. Aber nicht mehr vor Hunger. Er schob den Salatteller von sich. Vorsichtig fragte er: »Was will sie?«
    »Was weiß ich«, antwortete Ken achselzuckend. »Das hat sie mir nicht verraten. Sie sagte nur: ›Richte Philip aus, ich möchte mit ihm reden.‹« Er machte eine Pause. Und dann hat sie noch hinzugefügt: »Dringend!«
    »Scheiße, Mann, und das sagst du mir erst jetzt?«
    Ken zog den Kopf zwischen die Schultern. Er kramte in seiner Jackentasche und brachte ein Handy zum Vorschein. »Hier. Ruf sie an.«
     
     
    London
     
    Die Nacht brach an. In der Gasse bekam man nicht viel davon mit, hier herrschte rund um die Uhr Dunkelheit. Die hohen fensterlosen Backsteinmauern zu beiden Seiten raubten der Straße das Tageslicht, aber sie schützten auch vor Frost und Schnee. Nur das ununterbrochene Rauschen des Feierabendverkehrs drängte in die Gasse, und von Zeit zu Zeit ertönte das Tosen einer U-Bahn aus dem Entlüftungsschacht.
    Der Mann in den zerlumpten Kleidern hockte zwischen einem Haufen Pappkartons. Er beschäftigte sich mit einer knisternden Plastiktüte, aus der er kleine undefinierbare Häppchen
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