Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
Vom Netzwerk:
unter dem strafenden Blick. Wahrscheinlich fürchtete er sich, traute sich aber nicht, es zuzugeben. So viele Jahre hatte er auf dem Stuhl gesessen, Stunde um Stunde Wache gehalten, ohne dass etwas passierte. Als es endlich geschah, hatte es ihn aus der Bahn geworfen.
    De Gussa nahm die Taschenlampe und leuchtete dem regungslosen Greis ins Gesicht. Wieder zuckte nur das Augenlid. Doch halt, auch die Lippen bewegten sich, zwar nur unmerklich, aber sie bewegten sich. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Stunde näher rückte. Diese Narren des Offiziums! Bei dem Gedanken an die zerstrittenen Herrschaften in der Piazza Nivona seufzte der Bischof. Am Ende drohte alles von ihm abzuhängen, seiner Weitsicht, seiner Entschlusskraft, auch seinem Willen.
    Eine Stimme antwortete ihm. Er drehte sich zu dem Padre um, doch als er dessen weit aufgerissene Augen im Strahl der Taschenlampe ausmachte, wusste er, es war der alte Mann auf der Liege gewesen, der gesprochen hatte.
    »Was haben Sie gesagt?«, fragte er ihn vorsichtig, weil er ihn nicht erschrecken wollte. Vielleicht konnte er den Greis für eine Weile bei Besinnung halten, bevor sein Verstand wieder abtauchte, wohin auch immer. Der Mund zuckte. Dann öffnete er die spröden Lippen.
    De Gussa fuhr mit seinem Ohr ganz dicht heran. Er hörte, was der Mann sagte. Steif wie vom Schlag getroffen stand er da, doch er wusste, er durfte nicht zögern. Er musste reagieren. Wenn nicht jetzt, wann dann? »Silvano«, sagte er.
    »Ja, Bischof?« Seine Stimme war ein ehrfurchtsvolles Flüstern.
    De Gussa spürte, wie die Entschlossenheit zurück in seinen Körper strömte. »Ich möchte Sie um etwas bitten.«
    »Wie Sie wünschen.«
    De Gussa richtete sich auf und strebte zur Tür, hinter der die Stufen zurück an die Oberfläche führten. »Schnallen Sie den Mann fest!«
    »Sie meinen…« Silvano stotterte.
    »Holen Sie Riemen. Oder Seile. Schnüre. Egal, was.«
    »Ich soll…«
    »Binden Sie den Mann fest. Er darf nicht weg. Auf keinen Fall. Beeilen Sie sich.«
    »Wie Sie wünschen.«
    Doch da war der Bischof bereits über den Treppenabsatz verschwunden, und Silvano hörte nur noch die Schritte, die seine Schuhe auf dem nackten Stein erzeugten. Sie verhallten und ließen den Padre wieder allein zurück in der Grotte unter dem Vatikan, an der Seite eines alten Mannes, der nicht mehr länger im Koma lag.
     
     
    Berlin
     
    Philip erwachte. Er lag auf dem Rücken und blickte in das gedämpfte Licht einer Neonröhre. Ein Schatten schob sich davor. Ein Mann in einem weißen Kittel. Solariumsgebräunt.
    »Junge, Junge, Sie machen mir Sachen«, staunte Dr. Wittpfuhl. Der Raum verlieh seiner Stimme einen hallenden Klang.
    Philip spürte kaltes Metall an seinem Rücken. Er entdeckte steriles Weiß links und rechts von ihm an der Wand. Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihm. »Wo bin ich?«, krächzte er. Seine eigene Stimme war ihm fremd.
    »Nun, also…« Wittpfuhl räusperte sich. »Es tut mir Leid, wirklich, aber es war keine einzige Bahre mehr frei.«
    Ein eisiger Schauder ließ Philip erzittern. Er lag auf dem Obduktionstisch in der Pathologie, spürte die Abflussrinne, die unter seiner Wirbelsäule verlief. Neben ihm stand die Ablage voller Messer und anderem, undefinierbarem Besteck. Er war nicht erpicht darauf zu erfahren, wozu diese Geräte benutzt wurden.
    Er wollte sich erheben, doch Wittpfuhl hielt ihn zurück. »Bleiben Sie liegen, Sie hatten einen Schwächeanfall.«
    Nein, hatte ich nicht, wollte Philip entgegnen. Und lassen Sie mich los. Doch seine Stimme versagte.
    »Hallo?«, rief jemand aus der Leichenhalle nebenan. Bei dem Gedanken an die Toten stellte sich Erleichterung ein. Lieber lag er lebend im Obduktionssaal.
    »Ich komme«, sagte Wittpfuhl und bedeutete Philip zu warten. »Erholen Sie sich ein wenig. Bleiben Sie kurz liegen.«
    Genau das gedachte er zu tun. Kurz. Er richtete sich auf. Vor seinen Augen begann sich der Raum zu drehen. Er atmete tief ein und aus. Nur allmählich kehrte die Kraft in seinen Körper zurück.
    Die Visionen, die in immer kürzerer Abfolge auftraten, zehrten an seinen Kräften. Er wusste nicht, wie lange er dem noch standhalten konnte.
    Aus dem Nebenraum hörte er Stimmen. Eine gehörte dem Doktor. Die zweite Stimme kam ihm ebenfalls bekannt vor. »Ist das ein Mistwetter«, sagte ihr Besitzer.
    »Ja«, bestätigte Wittpfuhl.
    Das Rascheln von Kleidung, als würde sich jemand den Schnee vom Leib klopfen. »Wenn die Räumungsfahrzeuge das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher