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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Leichenhalle. Der Doktor stand an einem Waschbecken und reinigte Besteck. Die Liegen standen wieder in Reih und Glied, nichts deutete auf Philips Anfall hin.
    »Hier«, sagte Berger. Sie standen vor einer Bahre. Sie war wie alle anderen mit einem weißen Laken bezogen. Die Umrisse des Körpers darunter waren zu erkennen. Ein kleiner Körper.
    Irgendetwas lief nicht so, wie Philip es erwartet hatte. »Ist das…?«
    Wortlos riss Berger das Laken herab.
    Lisa hatte die Augen geschlossen, als schliefe sie. Doch der Rest ihres Mädchenkörpers erweckte nicht den Eindruck von Schlaf. Philip erkannte sie wieder. Sie sah aus, wie sie ihm erschienen war. Übersät mit blutigen Wunden und unübersehbaren Anzeichen von Verwesung.
    Diesmal hielt er sich nicht zurück. Er stürmte quer durch die Halle und übergab sich in das Waschbecken. Der Mediziner verzog keine Miene.
    Mit der Kotze brach die Erkenntnis endgültig aus ihm heraus. Natürlich. Ihr Tod lag schon einige Tage zurück, um das zu erkennen, brauchte man keine Obduktion. Erst jetzt hatte man ihre halb verweste Leiche gefunden. Ihre kleine unschuldige Seele irrte dagegen verstört umher.
    Nichts lief schief. Er würde ihr helfen können. Sie hatte ihn nicht darum gebeten ihr Leben zu retten, sondern ihre Seele. Und vielleicht waren da noch mehr Kinder, die auf seine Hilfe warteten. Er entsann sich an einen Zeitungsausschnitt, den er in der Wohnung seiner Großmutter gelesen hatte: Zwei Jungs aus Zehlendorf werden vermisst. Wenn das seine Aufgabe war, dann wollte er verdammt sein, wenn er sie nicht erfüllte.
    »Verdammt, ich rede mit Ihnen!«, schnauzte der Kommissar. Er wies auf die sterblichen Überreste, die der Pathologe eben wieder mit dem Leichentuch bedeckte. Philip nickte ihm dankbar zu. »Ich habe Sie gefragt: Haben Sie damit auch zu tun?«
    In gewisser Weise schon. Aber bestimmt nicht so, wie der Kommissar annahm.
    »Nein, das habe ich nicht«, gab Philip empört zurück. Er wischte sich die letzten Reste des bitteren Erbrochenen von den Lippen. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Schließlich wollte er den Kommissar auf seine Seite ziehen. »Sie ist nicht das einzige Opfer, oder?«
    »Nein«, versetzte Berger knapp.
    »Die Kinder sind…« Es fiel ihm schwer, es auszusprechen, vor allem mit dem Gedanken daran, was er selbst in der Nacht zu Mittwoch getan hatte. Für einen Augenblick sah er Chris vor sich stehen. »Sie sind vergewaltigt worden.«
    »Das, was man ihnen angetan hat, ist noch viel schlimmer.«
    »Haben Sie den Täter?«
    Berger antwortete nicht.
    Philip nickte. »Sie haben ihn nicht.«
    Noch immer kein Ton.
    »Sie haben nicht einmal einen Hinweis, richtig?«
    Berger presste die Lippen aufeinander. Dann knurrte er: »Also, entweder Sie erzählen mir, was Sie wissen, oder…«
    Jetzt war der Moment gekommen. »Unter einer Bedingung!«, sagte Philip. Er fühlte sich elendig dabei, den Tod dieser armen Seelen für seine eigenen Zwecke zu missbrauchen, aber welche Wahl blieb ihm?
    Berger blähte die Wangen auf, die Bartspitzen berührten fast die Ohren. »Habe ich das richtig verstanden? Sie stellen mir Bedingungen?«
    »Hören Sie mich wenigstens an!« Philip kreuzte die Arme vor der Brust. Ken hatte ihm mal erzählt, dass diese Geste Distanz signalisierte, aber auch Entschlossenheit. Er hoffte, dass es stimmte.
    Berger nickte. »Okay, ich höre! Welche Bedingung?«
    »Sie lassen mich gehen.«
    »Was glauben Sie eigentlich…«
    »Bitte, Sie wollten mir zuhören«, unterbrach ihn Philip. »Ich liefere Ihnen diese Scheißkerle ans Messer. Okay? Und Sie geben mir Zeit. Nur ein bisschen Zeit.«
    »Wozu?«
    Um dem großen Plan auf die Spur zu kommen. Er sagte: »Damit ich Ihnen zeigen kann, dass ich unschuldig bin.« Er hatte keine Ahnung, wie er diesen Beweis liefern wollte. Er war noch so weit von einer Antwort entfernt, von allen Antworten.
    »Und das soll ich Ihnen glauben?«
    »Ich schwöre Ihnen… beim Leben meiner Großmutter…«
    »Dazu ist es zu spät!«, versetzte der Kommissar.
    »Piss die Wand an, ich verspreche es Ihnen! Alles, was ich brauche, ist ein wenig Zeit. Ich melde mich bei Ihnen. Versprochen!«
    Berger schien tatsächlich über seinen Vorschlag nachzudenken. »Es gab einen Vorfall, gestern…«
    Philip hob die Augenbrauen.
    »Zwei Beamte, die am Hermannplatz einen Taschendieb verhaftet haben. Später stellte sich heraus: Er hatte einen Mord auf dem Kerbholz.«
    »Und?«
    »Die beiden Beamten haben Sie wiedererkannt, als ich ihnen
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