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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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diesem Moment fühlte er sich mit ihr verbunden. Sie ist meine Familie. Er schwor sich, dieses Gefühl in seiner Erinnerung zu bewahren. Noch immer hielt er ihre Hand zwischen seinen Fingern.
    Ein Blitz zuckte durch seinen Körper und schleuderte ihn einen halben Meter zurück, direkt gegen eine der anderen Bahren. In seiner Hüfte flammte der Schmerz siedend heiß auf. Hinter seiner Stirn gackerten tausendfach Stimmen. Sein Schädel drohte zu zerplatzen.
    Benommen presste er die eine Hand gegen die Schläfe, als könnte er die Stimmen auf diesem Weg beruhigen. Mit der anderen stützte er seine Hüfte, die sich von dem Aufprall noch nicht erholt hatte. Was war gerade passiert? Nein, die Frage war: Was passiert jetzt?
    Tücher in der Leichenhalle raschelten. Unsichtbare Körper bewegten sich. Eine Hand kroch seine Leiste hinauf zur Schulter – es war keine Hand, es war die reine Angst. Die Haare richteten sich ihm auf, die wenigen, die er noch am Leib trug, im Nacken und auf den Armen.
    Eine Decke glitt zu Boden. Auf einer Bahre setzte sich ein Mädchen auf, dem der Arm ungelenk vom Körper abstand. Aber das schien ihm nichts auszumachen, es war jenseits physischer Schmerzen. Nackte Füße schleppten ihren kleinen Körper heran, übersät mit blutigen Flecken an Po und Genitalien.
    Philip japste nach Luft. Das kleine Mädchen lächelte. Mit verkrampftem Gesicht fragte er: »Wie kann ich dir helfen?«
    Sie hob ihre Hand. Finger, von denen die Haut in Fetzen fiel. Sie streifte seine Wange, der Hauch einer Berührung, aber ein Universum an Empfindungen. Sie tauchte in ihn hinein und durch ihn hindurch. Sie berührte ihn, und mehr noch, sie wurde ein Teil von ihm. Er war ihr nahe, so verdammt nahe. Es traf ihn mit solcher Wucht, dass er zu Boden stürzte. Er war ihr so nahe wie noch nie einem Menschen zuvor. Er spürte ihr Leben, lebte ihr Leiden. Er war Lisa, und Lisa war er.
    Das war zu viel für ihn. Er wälzte sich auf dem gefliesten Boden. Er sah alles. Ihre Geburt. Ihr Leben. Die Freundlichkeit, die keine war. Lisa, weine nicht Die Schmerzen schleuderten seinen Leib umher. Lisa, es ist doch gar nicht so schlimm. Die Kamera lief. Das lustvolle Stöhnen. Die gnadenlose Penetration. Die Schmerzen. Der Ekel. Halt doch still. Irgendwann hielt sie still.
    »Aber der Tod«, sagte sie mit einer Gewissheit, die ihrem irdischen Alter Hohn sprach, »der Tod bringt kein Erbarmen.«
    »Ich ertrage das nicht«, antwortete er wimmernd.
    »Paperlapapp«, sagte eine Stimme.
    Die Erkenntnis kam wie Blitz und Donner in einem. Sie fegte seinen Verstand hinweg. Die Welt um ihn herum wurde schwarz.
    Manchmal bedeutet Dunkelheit Gnade.
     
     
    Rom
     
    Seit er Pater Silvano vor vierzig Jahren zum Dienst in den Vatikan bestellt hatte, hatte Bischof Ricardo de Gussa den Geistlichen aus der kleinen Gemeinde in der Provinz Belluno nur selten zu Gesicht bekommen. Er konnte ihre Begegnungen an zwei Händen abzählen, ihr erstes Treffen vor 19 Jahren mitgezählt. Das war nun wirklich nicht viel. Doch es berührte de Gussa nicht sonderlich, denn er wusste, Silvano würde das Vertrauen, das er ihn setzte, nicht enttäuschen.
    Aber zuletzt, seit Silvano ihm am Montag die unglaubliche Kunde überbracht hatte, war de Gussa beinahe täglich, manchmal sogar mehrmals am Tag zu ihm hinab in den Keller unterhalb des eigentlichen Kellergeschosses gestiegen, von dessen Existenz nur die wenigsten im Vatikan einen Schimmer hatten. Selbst der Heilige Vater war in Unkenntnis über die Grotte, aber das brauchte der Padre nicht zu wissen. Er würde auch nie danach fragen, dessen war sich de Gussa sicher, denn zu groß war Silvanos Angst, man würde ihm das Vertrauen entziehen. Deshalb schwieg er auch jetzt, als de Gussa über die spröden Stufen hinab in den Untergrund stieg, zum dritten Mal am heutigen Tag.
    De Gussa bemühte sich zwar, den Eindruck eines entschlossenen Mannes zu wahren, doch als er sich nun über den Körper des Greises beugte, der am Ende des Raumes auf einer Liege ruhte, spürte er, wie Verzweiflung und Schmerz schwer auf ihm lasteten.
    »Hat er noch einmal gesprochen?«, fragte de Gussa leise.
    »Er redet ständig«, antwortete Silvano.
    »Was sagt er?«
    »Ich habe es nicht verstanden.« Er wies auf den Stuhl, der am anderen Ende des finsteren Raumes stand, auf dem er seit 19 Jahren gesessen und darauf gewartet hatte, dass etwas passierte. »Er war zu leise.«
    »Wieso stellen Sie den Stuhl dann nicht näher heran?«
    Silvano schrumpfte
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