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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Prolog
     
     
     
    Ich schlug die Augen auf und blickte in fassungslose Gesichter. Es war, als würden sie einen Tanz um mich herum aufführen, mal nach links, dann nach rechts. Sie murmelten dabei Worte, die meine Ohren zwar aufnahmen, mein Verstand aber nicht begriff. Jede Sekunde rechnete ich damit, dass ihre sorgenvollen Mienen sich in bleiche, hässlich grinsende Totenschädel verwandelten.
    Doch irgendwann ließ der Schwindel in meinem Kopf nach. Der Tanz der Gesichter wurde langsamer.
    »Ist dir was passiert?«
    »Geht es dir gut?«
    »Kannst du uns verstehen?«
    Natürlich konnte ich sie verstehen. Ich befand mich im wahren Leben und war den gierigen Klauen des Todes gerade noch entronnen.
    Alles war sehr schnell gegangen. Jemand verpasste mir einen Stoß in den Rücken. Mit rudernden Armen stolperte ich auf die Straße, griff nach einem Halt, der nicht da war. Ich sah den Wagen nahen. Die nächsten Sekunden vergingen wie in Zeitlupe. Der Wagen war ein Ford mit dem Nummernschild K-NX 439. Das Kennzeichen ist mein Schicksal. Der Fahrer des Ford versuchte auszuweichen, doch während die Reifen unter der plötzlichen Steuerbewegung auf dem Straßenbelag jaulten, rückte die Stoßstange unaufhaltsam meiner Hüfte entgegen. Auge in Auge mit dem Kühler erwartete ich den heißen Schmerz.
    Doch wie durch ein Wunder blieb er aus. Das ist glatt gelogen. Es waren zwei starke Hände, die mich packten, unsanft zwar, aber im Vergleich zu dem, was die Kollision mit der Autofront mir angetan hätte, beinahe zärtlich. Jemand sprang auf die Straße, stieß mich beiseite. Ich stolperte, blickte überrascht zurück, meine Augen weiteten sich, als ich… Mit der Schläfe knallte ich gegen die Eisenstange eines Straßenschildes auf dem Bürgersteig gegenüber. Ein Stoppschild. Wie passend.
    Benommen sank ich zu Boden. Während meine Sinne nach und nach ihre Dienste quittierten, spulte sich vor meinem inneren Auge das Gesehene noch einmal ab. Der Wagen rollte mit quietschenden Bremsen über die Stelle hinweg, auf der ich noch vor ein paar Millisekunden gestanden hatte. Jetzt aber fuhr er an mir vorbei. Die Stoßstange erwischte einen Körper, nicht meinen, den meines Retters. Er flog im hohen Bogen durch die Luft und prallte mit dem Kopf voran auf den Asphalt. Ich bekam noch mit, wie der Fahrer die Kontrolle über den Ford verlor; der Wagen brach über den Straßenrand, krachte den Graben hinab, überschlug sich und blieb mit einem schrillen, blechernen Kreischen auf dem Dach liegen.
    Nicht weit davon entfernt erblickte ich eine Gestalt, die sich in den Schatten eines Baumes drückte. Der Mann zeigte kein Interesse am Chaos der Unfallstelle. Die anderen Augenzeugen versammelten sich schaulustig um den Verunglückten. Oder sie gafften den Ford und den darin eingeklemmten Fahrer an. Sie warteten, ob das Benzin, das aus einem geplatzten Schlauch ins Gras sickerte, sich zu einem Feuerball entzündete. Der Mann aber stand davon unberührt im Zwielicht der Äste und Blätter. Sein Blick galt ausschließlich mir.
    Ich wusste nicht, was er zu sehen erwartete. Ich reagierte nicht. Der siedende Schmerz hinter meinen Schläfen. Ich verlor das Bewusstsein.
    Jetzt lag ich hier am Bordstein, umringt von Menschen, die sich um mich sorgten. Ich hob meinen Kopf, doch sofort zwang der Schmerz mich zurück in die Waagerechte.
    »Nicht bewegen«, sagte eine Frau zu mir, die ganz in Weiß gekleidet war. Das blonde Haar fiel ihr in einer schwungvollen Welle auf die Schulter. Wäre da nicht das kleine rote Kreuz auf ihrer Jacke, wirkte sie wie ein Engel. Man kann mit keinem schöneren Anblick erwachen.
    Dann traf mich die Erkenntnis mit der Wucht eines Vorschlaghammers: Man hatte versucht, mich vor ein Auto zu stoßen. Irgendjemand wollte mich umbringen. Ich wurde gerettet, weil ein anderer sein Leben riskiert hatte. Ich hustete. Mir wurde schlecht.
    »Ist er tot?«, würgte ich zwischen trockenen Lippen hervor.
    »Pst«, sagte die Ärztin nur.
    Trotz ihrer Weisung legte ich den Kopf zur Seite. Etwas spannte in meinem Nacken, drohte zu zerreißen, doch ich beachtete den Schmerz nicht. Mein Blick bahnte sich einen Weg zwischen den Füßen und Waden der Umstehenden hindurch. Ich sah gerade noch, wie zwei Sanitäter eine Trage emporhievten – dann war auch mein Retter verschwunden. Wenig später heulte ein Martinshorn auf. Also lebte er. Ich freute mich.
    »Na siehst du«, sagte mein Engel. »Jetzt kannst du sogar schon wieder
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