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Pechstraehne

Pechstraehne

Titel: Pechstraehne
Autoren: Matthias P. Gibert
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1
    Martha Zacharias sah in die Gesichter der drei Menschen, die mit ihr gemeinsam das Abendessen einnahmen.
    Alte Gesichter , dachte sie, wiewohl noch nicht bereit für den letzten Schritt.
    »Willst du noch etwas von dem Aufschnitt, Martha?«, wollte Horst Breiter, der Mann ihr gegenüber wissen. »Der ist wirklich sehr gut.«
    »Nein, vielen Dank, Horst«, erwiderte die 76-jährige Frau kopfschüttelnd. »Ich will nicht mehr so viel Fleisch essen, das weißt du doch.«
    »Aber das ist Wurst, Martha! Wurst, kein Fleisch!«
    »Ja, ja«, gab sie mit einem gütigen Nicken zurück, »ich weiß.«
    »Du gefällst mir heute ganz und gar nicht, Martha«, bemerkte Herbert Anselm, der Mann zu ihrer Rechten, leise. »Es geht dir doch nicht immer noch schlecht wegen dieser vermaledeiten Sache?«
    Sie schüttelte schnell den Kopf.
    »Nein, nein, darüber bin ich soweit hinweg, Herbert. Ich habe ein wenig Kopfschmerzen, aber sonst geht es mir nicht schlecht.«
    »Du sagst Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann, ja?«
    Die Frau blickte ihm lang in die Augen, bevor sie antwortete.
    »Das mache ich, versprochen.«
    Damit tupfte sie sich die Lippen ab, stand auf und nickte in die Runde.
    »Ich bin müde und lege mich hin. Den Fernsehabend lasse ich heute aus, und es kann gut sein, dass wir uns erst wieder zum Frühstück sehen.«
    Damit drehte sie sich um und verließ den Raum.
    »Ich mache mir ernsthaft Sorgen um sie«, sinnierte Herbert Anselm kurz darauf murmelnd.
    »Um Martha?«, fragte Elli Beselich, die ihm gegenüber saß, mit vollem Mund.
    Er nickte.
    »Um die brauchst du dir nun wirklich keine Sorgen zu machen«, fuhr die Frau fort. »Das alte Schlachtschiff geht schon nicht unter, und überleben wird die uns alle hier sowieso.«
    Während Elli Beselich diesen Satz sprach, bewegte die Frau, von der sie redete, sich mit gemächlichen Schritten auf ihr kleines Appartement im zweiten Stock des Seniorenstifts im Kasseler Stadtteil Wilhelmshöhe zu. Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Holz, atmete tief durch, lächelte kurz und machte sich im Anschluss auf den Weg ins Bad. Dort öffnete sie den Badewasserhahn, gab ein wenig des sündteuren Badegels, das sie sich seit einigen Jahren gönnte, ins Wasser, und nahm danach an dem kleinen Schreibtisch Platz, der vor dem Wohnraumfenster stand. Dort griff sie nach einem vorbereiteten Briefbogen, legte ihn vor sich zurecht, nahm einen schwarzen Füllfederhalter in die rechte Hand und begann zu schreiben.

    Liebe Mitarbeiter des Hauses,
    was genau hinterlässt man in solch einer Situation? Ich weiß es nicht, denn dies ist, offen gestanden, mein erster Suizid. Und ich wäre sehr erleichtert, wenn ich erfolgreich und es damit auch mein letzter wäre.
    Zunächst entschuldige ich mich für die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen allen mit meinem Handeln bereite. Ich vermute, Sie werden schockiert und auch verärgert sein, bitte Sie jedoch, meinen Wunsch nach dem Tod zu respektieren (dies nur für den Fall, dass ich vor dem letzten Atemzug aufgefunden werden sollte). Und um es noch einmal so deutlich wie möglich auszudrücken: Ja, ich möchte nicht mehr leben. Ich möchte es einfach nicht mehr.
    Sicher ist es tröstlich für alle Übriggebliebenen, wenn sie etwas zu den Beweggründen meines Ausscheidens aus dem Leben erfahren, deshalb hier eine kurze Erläuterung.
    Nach den unglücklichen Ereignissen, die für mich und einige der Menschen hier im Stift zu großen finanziellen Einbußen geführt haben, ja die teilweise, wie in meinem Fall, ruinös waren, war meine Existenz geprägt von großer Angst und noch mehr Scham. Scham denjenigen gegenüber, die ich durch mein Verhalten und mein sinnloses Handeln in entsetzliche Schwierigkeiten gebracht habe. Jedoch, und das ist ein ebenso unverrückbares wie tragisches Faktum, sind diese Ereignisse nicht zu revidieren.
    Aus diesem Grund bitte ich alle, die ich in diese peinliche Situation gebracht habe, aus tiefstem Herzen um Verzeihung. Ebenso möchte ich meinen Neffen Moritz dafür um Verzeihung bitten, dass ich seine Ausbildung nicht weiter finanzieren kann, und dass er das bekömmliche Erbe, auf das er sich vermutlich seit vielen Jahren gefreut hat, nun nicht in Empfang wird nehmen können, denn mit dem heutigen Tag sind alle meine Ersparnisse aufgebraucht, alle Konten auf Null.
    Zu guter Letzt möchte ich darauf hinweisen, dass mir ein schönes Leben vergönnt war, das ich in weiten
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