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Schweig um dein Leben

Schweig um dein Leben

Titel: Schweig um dein Leben
Autoren: Lois Duncan
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Zeugenschutzprogramms«, sagte Tom. »Die Umsiedelung an einen neuen Wohnort wird in der Regel nur einmal vorgenommen. Ich könnte meine Beziehungen spielen lassen und Ihnen unter Umständen neue Papiere besorgen, aber Sie dürfen nicht darauf hoffen, weiterhin vom Justizministerium finanziell unerstützt zu werden.«
    »Onkel Max kann uns helfen«, sagte Jason. »Er und Dad sind Freunde. Wenn er fragen würde …«
    »An deiner Stelle würde ich nicht zu viel von ihm erwarten«, unterbrach Lorelei ihn. »Jetzt, da dein Vater für ihn nicht mehr von Nutzen ist, bezweifle ich sehr, dass wir noch auf ihn zählen können.«
    Dad seufzte. »Es fällt mir schwer, das zu glauben, aber wahrscheinlich hast du recht. Und selbst wenn nicht, auch Max könnte nicht einfach so über staatliche Mittel verfügen. Außerdem gefällt mir der Gedanke nicht, ständig auf Hilfe angewiesen zu sein, um über die Runden zu kommen. Wenn wir einen Neustart wagen wollen, dann aus eigener Kraft. Von jetzt an sind wir ganz auf uns allein gestellt.«
    »Aber wir haben uns«, sagte Mom leise.
    »Ja, wir haben uns«, sagte Dad fest. »Reicht uns das, um uns ein neues Leben aufzubauen?«
    Zuerst dachte ich, die Frage sei nur an Mom gerichtet, bis ich ihn ansah und merkte, dass er sie auch mir stellte.
    »Natürlich reicht uns das«, antwortete Mom wie aus der Pistole geschossen. Ich dagegen schwieg. Ich war mir nicht sicher, ob es reichen würde. Nur – was blieb uns anderes übrig? Wir hatten die Brücken hinter uns abgebrochen und gar keine andere Wahl, als irgendwie weiterzumachen.
    »Glaubst du, wir schaffen das?« Dad blickte mich mit einem so hoffnungsvollen Ausdruck in den Augen an, dass ich trotz meiner Zweifel nickte.
    »Aber dieses Mal suche ich mir meinen Namen selbst aus«, sagte ich.

EPILOG
    Es war Dezember, als ich ihn zum ersten Mal in der Mall sah.
    Heute denke ich natürlich nicht mehr »er« oder »ihn«. Er hat einen Namen und einen Platz in meinem Leben. Aber damals war er einfach nur ein Junge in meinem Alter, der allein vor einem Schaufenster stand, während sich Horden von Menschen auf der Jagd nach Weihnachtsgeschenken an ihm vorbeischoben.
    Dezember ist ein Monat, in dem die Nostalgie zuschlägt. Hat man etwas ganz tief in seinem Herz begraben und will, dass es dort bleibt, kommt es mit ziemlicher Sicherheit im Dezember an die Oberfläche. Vielleicht fiel er mir deswegen auf. Ich glaube, ich wollte den letzten Dezember hinter mir lassen, oder ich hatte Sehnsucht danach, ihn noch einmal zu erleben.
    Ich war in die Mall gegangen, um Geschenke für meinen Bruder zu besorgen. Mom arbeitete mittlerweile als Sekretärin für eine Versicherungsgesellschaft und hatte keine Zeit mehr für so etwas. Genauso wenig wie meine Großmutter, die in einer Boutique für Designermode arbeitete. Mein Vater hatte noch keinen festen Job gefunden, aber während der Weihnachtszeit half er in einem Laden für Sportartikel aus. Er sagte, es würde sich seltsam anfühlen, wieder an den Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein und Skier zu verkaufen, so wie damals, als er Mom kennengelernt hatte.
    Ich habe auch einen Job, den ersten in meinem Leben. Eigentlich hatte ich nur ein bisschen Geld für Weihnachtsgeschenke verdienen wollen, dann aber beschlossen, damit weiterzumachen und zu sparen, bis ich den Highschool-Abschluss hatte. Ich arbeite an den Wochenenden bei Jamba Juice, und bis auf die schreckliche Uniform, die man dort tragen muss, ist der Job gar nicht mal so schlecht. Zum Glück sind meine Haare immer noch so kurz, dass ich kein hässliches Haarnetz tragen muss. Sie sind zwar ein bisschen gewachsen, reichen mir aber gerade mal bis zum Kinn, es wird also noch eine Weile dauern, bis sie wieder so lang sind wie früher. Mittlerweile frage ich mich aber, ob es die Mühe überhaupt wert ist. Es ist einfach praktischer so.
    Ich war extrem vorsichtig geworden und blieb meistens für mich, damit mir nie wieder jemand zu nahe kommen konnte. Dann sah ich ihn – dunkelhaarig und groß, in einem rot-weiß gestreiften Hemd –, und ich spürte einen schmerzhaften Stich. Ich ging auf ihn zu, und als ich neben ihm am Schaufenster stand, sah ich, dass er ein Kristallprisma betrachtete.
    Normalerweise verhielt ich mich Fremden gegenüber äußerst zurückhaltend, aber in dem Moment konnte ich nicht anders. »Ich hatte mal so eines«, sagte ich. Genau genommen hatte ich das Prisma immer noch. Es war in einem der Kartons gewesen, die Lorelei und ich aus
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