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Schweig um dein Leben

Schweig um dein Leben

Titel: Schweig um dein Leben
Autoren: Lois Duncan
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EINS
    Die Welt, wie wir sie kannten, endete für uns an einem Donnerstagnachmittag im Mai. Wir waren zu viert in der Familie, wenn man Lorelei nicht mitzählte. Unser Nachname war Corrigan. Mein Vater arbeitete für die Fluggesellschaft Southern Skyways und meine Mutter schrieb Kinderbücher. Mein kleiner Bruder Bram – George Bramwell jr. – ging in die dritte Klasse der Crestwood-Grundschule. Er hatte eine Besonderheit: ein blaues und ein braunes Auge. Mein Name war April, und ich ging in die elfte Klasse der Springside Academy. Meine Besonderheit: Ich war ein Tennis-Ass.
    Bis auf die Größe unserer Familie ist nichts mehr davon wahr. Wir lebten damals in Norwood, Virginia, einer kleinen Stadt in der Nähe von Washington D. C. Der Frühling ist eine geradezu magische Jahreszeit in Virginia. Ich wurde von strahlendem Sonnenschein und fröhlichem Vogelgezwitscher geweckt, blieb aber noch einen Moment lang liegen und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen auf meinen Augenlidern und den zart-süßen Duft, der von unserem Blumengarten durch das offen stehende Fenster wehte.
    Wenn ich heute die Augen schließe, kann ich die Blumen immer noch riechen. Ich glaube, es waren Hyazinthen.
    Nach einer Weile gab der Wecker auf dem Nachttisch ein bedrohliches Klicken von sich, und ich drückte, ohne hinzusehen, den Schalter aus, bevor der Alarm losgehen konnte. Dann öffnete ich die Augen und nahm die Schönheit des Tages in mich auf. Goldenes Licht strömte in mein Zimmer, und das Kristallprisma, das Steve mir vor zwei Wochen zu meinem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte und das »ein Jahr voller Regenbogen« symbolisieren sollte, warf ein buntes Kaleidoskop an die Wand gegenüber.
    Mein Zimmer fiel ziemlich aus dem Rahmen für ein Mädchen, das noch in die Highschool ging. Meine beste Freundin Sherry, deren Zimmerwände mit Postern von Rockstars zugepflastert waren, nannte es scherzhaft das »Prinzessinnengemach«. Mein »Gemach« war mit antiken Möbeln eingerichtet, die mir meine Großmutter Lorelei vermacht hatte, als sie ihr Haus verkaufte. Das Himmelbett und die dazu passende Kommode waren aus Kirschholz, über der Kommode hing ein ovaler Spiegel mit einem kunstvoll verzierten Goldrahmen. In einer Ecke stand ein Schaukelstuhl mit handgeschnitzten Armlehnen und einem blauen Samtkissen, ihm gegenüber eine Truhe aus Kampferholz, die meine Großeltern von einer Asien-Reise mitgebracht hatten.
    Aber das Zimmer bestand nicht nur aus Loreleis Sachen, sondern außerdem aus einem Bücherregal, vollgestellt mit meinen Lieblingsbüchern, und einer iPod-Docking-Station neben meinem Bett. Auf einem Regalbrett unter dem Fenster reihten sich meine Tennis-Trophäen und auf der Kommode lächelte mir Steve schelmisch aus einem Bilderrahmen entgegen.
    Etwas an diesem Lächeln war ansteckend. Ich blinzelte mir den Schlaf aus den Augen und lächelte zurück, dann wanderte mein Blick an Steves Foto vorbei zum Schrank. Bis zum Abschlussball waren es nur noch vier Tage und in diesem Schrank hing mein erstes langes Kleid.
    Ich schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Als ich auf dem Weg ins Badezimmer am Fenster vorbeikam, kräuselten sich die Vorhänge in einer leichten Brise, und das Prisma, das von der Vorhangstange baumelte, wirbelte fröhlich im Kreis und warf Regenbogenmuster auf meinen Schlafanzug.
    Ich putzte mir die Zähne, zog mich an und verbrachte mehrere Minuten damit, meine langen blonden Haare zu einem französischen Zopf zu flechten. Anschließend lief ich die Treppe hinunter in die Küche, wo meine Mutter und mein Bruder schon am Tisch saßen, unter dem es sich unser Cockerspaniel Porky gemütlich gemacht hatte. Bram begrub gerade seine Cornflakes unter einer Schicht Zucker, und Mom war so in ihre Zeitung vertieft, dass sie nichts davon mitbekam. Vor ihr stand ein Kaffeebecher mit der Aufschrift » ICH SCHREIBE, ALSO BIN ICH «. Er war randvoll mit einer ölig-schwarzen Flüssigkeit gefüllt, die wie die Überreste einer Teergrube aussah.
    »Gibt’s irgendwas Neues über den Prozess?«, fragte ich zur Begrüßung.
    »Falls ja, steht nichts darüber in der Zeitung«, antwortete Mom.
    »Hoffentlich ist die ganze Sache bald vorbei, damit Dad endlich nach Hause kommen kann«, sagte ich. »Sie könnten ihn wenigstens an den Wochenenden zu uns lassen.«
    Ich holte ein Glas aus einem der Hängeschränke und Orangensaft aus dem Kühlschrank und schenkte mir ein.
    Mom ließ die Zeitung sinken und sah Bram an. »Jetzt sag bloß,
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