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Schwarze Stunde

Schwarze Stunde

Titel: Schwarze Stunde
Autoren: Christine Feher
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nun sind wir auf dem Weg nach Calais auf dem letzten Stück bei Antwerpen mitten in den Berufsverkehr geraten. Seit einer Dreiviertelstunde stehen wir, und es ist fraglich, ob wir die Fähre pünktlich erreichen. »Dann wären wir längst da. Berlin – London, das dauert kaum mehr als eine Stunde.«
    »Zwei«, korrigiere ich ihn. »Es soll aber Leute mit Flugangst geben, außerdem hat Frau Bollmann doch gesagt, dass der Bus den Vorteil hat, dass er uns immer vor Ort zur Verfügung steht. Nach London zum Beispiel müssten wir sonst von unserem kleinen Küstenort aus mehrmals umsteigen. Hättest du Lust dazu?«
    »Du bist so aufmüpfig«, stellt Manuel fest und sieht mich von der Seite mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was ist los? Hetzt dich jemand gegen mich auf?«
    »Wie kommst du auf diesen Blödsinn?«, kontere ich. »Ich bin einfach nur anderer Meinung als du. Sieh mal, der Stau löst sich schon auf.«
    Aber die ganze restliche Fahrt über, auch während der Überfahrt durch den Ärmelkanal, weicht mir Manuel nicht mehr von der Seite und scheint pausenlos zu beobachten, was ich sage und tue, mit wem ich rede, in wessen Nähe ich mich aufhalte. Selbst als ich die Toilette auf der Fähre aufsuche, bleibt er vor dem Waschraum stehen und legt sofort wieder besitzergreifend den Arm um mich, als ich wieder herauskomme. Ich kann weder allein mit Alena und den anderen Mädchen durch den Duty-Free-Shop bummeln noch ohne Manuel an Deck bleiben, obwohl er lieber drinnen in der Mitte des Schiffs sein will, wo es nicht so stark schwankt, denn wir haben starken Seegang und ihm ist bereits etwas übel. Durch diesen Umstand vergisst er aber wenigstens, mir alle zwei Minuten einen Kuss aufzuzwingen, der ohnehin nicht seine Zärtlichkeit ausdrücken, sondern seine Besitzstände markieren soll, laut schmatzend und ohne mich dabei zu streicheln, ohne ein Lächeln in seinen Augen. Ich hätte so gern die Klippen von Dover näherkommen sehen.
    Als wir jedoch wenig später mit dem Bus von Bord gehen, vergesse ich meinen Ärger darüber sofort. England, ich bin wieder in England! Mit meinen Händen bilde ich Scheuklappen, um in der hereinbrechenden Dunkelheit so viel wie möglich von der vorüberfliegenden Landschaft aufsaugen zu können. Fasziniert lese ich all die englischsprachigen Schilder und Plakate, staune über den Linksverkehr und stoße leise Schreie des Entzückens aus, als ich die ersten dicht aneinander geschmiegten landestypischen Reihenhäuser sehe. Obwohl jetzt später Herbst ist und viele der vom Wind geneigten Bäume bereits kahl sind, hat die Landschaft in meinen Augen nichts von ihrer Schönheit und Faszination eingebüßt; immer wieder tauchen beschauliche kleine Fischerorte vor uns auf, jetzt in den Abendstunden spärlich erleuchtet, das Wasser vor den Ufern schwarz glitzernd. Als ich kurz zurück ins Innere des Busses blicke, treffen sich Corvins und meine Blicke, doch seiner wirkt düster. Er muss mir glauben, dass ich nicht freiwillig die ganze Zeit mit Manuel zusammen bin, er muss! Über eine Stunde ist vergangen, als der Bus in eine schmale Schotterstraße einbiegt und schließlich hält. Regen und Wind peitschen in unsere Gesichter, als wir aussteigen und unsere Koffer aus der Ladeluke zerren. Die Jugendherberge, die uns Frau Bollmann mehr als eine Art Hostel mit eigenen Waschräumen angekündigt hat, entpuppt sich als alte, offenbar für Gruppenreisen umgebaute Stuckvilla von hellem, verschnörkeltem Putz und mit den landestypischen Erkern, in die ich mich sofort verliebe. Frau Bollmann drückt auf den Klingelknopf und tritt einen Schritt zurück. Eine ganze Weile passiert nichts.
    »Keiner da«, meint Oleg bereits achselzuckend und will sich schon umdrehen, da sind plötzlich von innen Schritte zu vernehmen, schlurfende Schritte, die nur langsam näher kommen. Die Tür wird einen Spalt breit geöffnet und ein lang aufgeschossener alter Mann blickt uns aus blassblauen Augen hinter dicken, hängenden Tränensäcken an. Seine knotigen Hände wischt er an einer Schürze ab, die so aussieht, als hätte er sie lange nicht mehr gewaschen.
    »Yes, please?«, fragt er, während hinter ihm eine Frau erscheint, noch länger, noch hagerer, noch faltiger als er selbst, auch sie sieht uns an, als wären wir fremde Eindringlinge statt angemeldete Gäste. Frau Bollmann reicht beiden die Hand und erklärt in fließendem Englisch, wer wir sind, woraufhin der Mann sich als Herbergsvater Mr Lewis vorstellt und uns endlich
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