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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin
Autoren: Silke Schütze
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    Prolog
    I ch bin an einem Mittwoch aus meinem Leben verschwunden. Einige Tage nachdem ich in unserem gepflegten Vorgarten ein kreisrundes Erdbeerbeet angelegt habe. Ich, Eva Brandt, gelernte Krankenschwester, verheiratet, 42 , Mutter. Ich hatte aus dem Baumarkt eine Palette mit Erdbeerpflanzen mitgebracht, den Spaten aus dem Schuppen geholt und ein rundes Beet ausgehoben. Direkt in der Mitte der Rasenfläche vor dem Haus. Das bepflanzte ich dann mit den Erdbeeren. Mein Mann Nick war entsetzt. Die Nachbarn haben die Köpfe geschüttelt. Mein Sohn Benny hat es noch nicht einmal bemerkt.
    Mir fallen nur zwei Menschen ein, die wenigstens versucht hätten, mich zu verstehen: meine Mutter und meine Freundin Alissa. Aber Mama ist seit drei Monaten tot. Und Alissa und ich haben uns aus unerklärlichen Gründen aus den Augen verloren. Es gab keinen Krach, kein Zerwürfnis, keinen schwelenden Konflikt. Anfangs haben wir uns nur immer seltener gesehen, und seit ein paar Monaten ist der Kontakt völlig abgerissen. Noch immer denke ich an Alissa als an meine beste Freundin. Nichts in meinem Leben kann sie ersetzen. Und trotzdem gelingt es mir nicht, mich aufzuraffen und sie anzurufen.
    In letzter Zeit entwischt mir das Leben immer wieder, so wie einem Sand durch die Finger rinnt.
    Wenn ich an die vielen Abende denke, die Alissa und ich gemeinsam auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer oder am Tisch ihrer Küche verbracht haben! Alissa ist Fan des Partyspiels »Gesprächsstoff«. Das ist eine kleine Box mit vielen Karten, die jeweils mit einer Frage bedruckt sind. Keine Wissensfragen, sondern tiefsinnige »Hand-aufs-Herz-Fragen«, die einen dazu bringen, über das eigene Leben neu nachzudenken. Wir haben es nächtelang gespielt. Bei Sekt oder Bier, Tee oder Kaffee. Vor dem Kamin und auf der Hollywoodschaukel. Manchmal mit ein paar Freundinnen, aber meistens nur zu zweit.
    Eine von Alissas Lieblingsfragen lautete: »Welchen Titel würdest du einem Buch über dein Leben geben?« Damals haben wir uns viele lustige Titel ausgedacht: »Sammelbildchen-Alarm: Zwei Mütter laufen Amok!«, »Vierjährige – schlaflose Wesen aus einer windelfreien Welt« oder »Die Stuhlkreis-Mafia«.
    Heute fallen mir völlig andere Titel ein, die ich jedoch nie laut sage. Beispielsweise »Einsam an der Waschmaschine« oder »Wer ist der Fremde neben mir im Ehebett?«. Eine gute Alternative wäre auch: »Mein Sohn behandelt mich wie Luft«.
    Auf einer Party würden diese Titel sicher für Gelächter sorgen. Dabei sind sie in Wahrheit todtraurig. Genauso traurig, wie ich manchmal bin. Wo ist mein Schwung geblieben, meine gute Laune? Meine Unbekümmertheit? Meine Zufriedenheit?
    Mama würde mich jetzt ernst ansehen, den Kopf schütteln und dann sagen: »Eva, wo liegt das Problem? Du bist seit fünfzehn Jahren glücklich verheiratet, das Haus ist abbezahlt und Benny aus dem Gröbsten raus!«
    Ja, das Haus ist abbezahlt, da hätte Mama recht. Aber was den Rest betrifft … Zurzeit fühle ich mich nur verheiratet, und das keinesfalls glücklich. Denn ich weiß nicht mehr, was Nick fühlt. Oder denkt. Dieses Unverständnis ist mittlerweile wohl das Einzige, das uns verbindet. »Ich verstehe dich nicht«, hatte er mich angefahren, als er am Abend vor dem Erdbeerbeet stand. »Warum hast du das gemacht?« Und damit war er wütend davongestapft. Früher hätte Nick mir die Zeit gegeben zu erklären, was in mir vorging. Früher hätte ich versucht, ihm das Gefühl zu beschreiben, das mich erfüllte, als ich den Spaten in das Erdreich trieb. Dieses aufgeregte Herzklopfen, das Bewusstsein, etwas zu tun, was in unserem niedersächsischen Dorf fast als verbotene Handlung angesehen würde. Denn hier haben alle dieselben ordentlichen Vorgärten, und der Gipfel der Exzentrik ist ein Gartenzwerg im St.-Pauli-Trikot, den das Lehrer-Ehepaar am Wendehammer in sein Blumenbeet gestellt hat. Früher hätten Nick und ich sogar gemeinsam über das Kopfschütteln der Nachbarn gelacht. Früher waren wir ineinander verliebt, und es gab keine Missverständnisse und Ungewissheiten zwischen uns. Alles war klar und sicher und eindeutig. Er. Ich. Wir.
    Und ich wäre niemals auf die Idee gekommen, alles stehen und liegen zu lassen, um unserem Haus und dem Dorf den Rücken zu kehren. Und so aus meinem eigenen Leben zu verschwinden.
    Meine persönliche Lieblingsfrage bei »Gesprächsstoff« lautet: »Wenn man einen Film über dein Leben drehen würde, welche Momente sollte dieser auf
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