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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin
Autoren: Silke Schütze
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Daniel und das Mädchen verschwimmen hinter dem regenbogenfarbenen Fächer der Wassertropfen aus dem Rasensprenger.
    Womm. Womm. Womm.
Ein ohrenbetäubendes Geräusch zerreißt die Stille und lässt mich zusammenfahren. Offenbar um sanfter einzuschlafen, beschallt Benny seine nähere Umgebung mit jener Art Musik, die er als »Auf-die-Fresse-Techno« bezeichnet. Für mich hört es sich nach einem außer Kontrolle geratenen Presslufthammer an.
    Ich betrachte den zusammengeknüllten Joghurtbecher, die Kaffeeflecken auf dem Tresen und die dunklen Spuren auf der Vorderseite des Küchenschranks, die braunen Lachen auf dem Fußboden. Ich lausche dem Krach von oben. Auf einmal sehe ich mich selbst wie aus der Vogelperspektive. Eine Frau, nicht mehr jung, aber noch nicht alt. Eine Frau, die in ihrem Leben steckengeblieben ist zwischen Gewohnheiten und Ritualen wie in einem Auto, das in einer Parklücke von anderen zugeparkt wurde. Aber dann verschwindet wie durch Zauberhand eines der anderen Autos, die Frau legt den ersten Gang ein und fährt davon. Genauso unvermittelt stehe ich jetzt auf, nehme die Post und steige die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Vor Bennys Tür verharre ich einige Sekunden, aber ich klopfe nicht. In wenigen Minuten habe ich meine Reisetasche gepackt und stopfe die Briefe als Letztes hinein. Die Betten im Schlafzimmer bleiben ungemacht. Dann stehe ich in der Küche und blicke noch einmal auf das Chaos, das ich zurücklasse. Sorgfältig hänge ich meinen Autoschlüssel an das Schlüsselbrett, lege die Fahrzeugpapiere in die Küchenschublade. Schließlich schalte ich die Kaffeemaschine aus, ziehe die Haustür leise ins Schloss und gehe über den Gartenweg auf die Straße.
    Im letzten Moment erreiche ich den Bus nach Soltau. Von dort nehme ich einen Zug nach Hamburg. Die Sommerlandschaft fliegt an mir vorbei, ohne dass ich etwas sehe. Immer wieder kommt mir das Bild von Daniel und dem Mädchen unter dem Regenbogen in den Sinn.
    Damals
    Es war heiß. Viel zu heiß für Juni und zu heiß für das gemütliche Mittagessen, das sich Tante Hedwig zu ihrem neunzigsten Geburtstag im Kreis von Familie und Freunden gewünscht hatte. Man konnte die Luft schneiden im Gastraum des Traditionsrestaurants »Övelgönner Fährhaus« am Hamburger Museumshafen, in dem sich die Festtagsgesellschaft zu Scholle Finkenwerder Art und Petersilienkartoffeln versammelt hatte. Eva sah gelangweilt zu ihrer Mutter Hanna hinüber. Hanna, adrett wie immer in weißer, gebügelter Bluse und dunklem Rock, saß neben der Jubilarin.
    »Tante Hedwig ist Papas letzte lebende Verwandte«, hatte Hanna beschwörend gesagt, als Eva nicht mit nach Hamburg kommen wollte. Tante Hedwig war seit dreißig Jahren Witwe und lebte nun seit zwei Jahren in einem Seniorenheim, wo sie viele Freunde gefunden hatte. Laut Hanna wurde die Tante von der Familie früher als »die rote Hedwig« bezeichnet. Auch heute noch stand sie aus innerer Überzeugung den Kommunisten nahe, und in den sechziger Jahren hatte sie mit den Studenten sympathisiert. Angeblich hatte sie im Krieg sogar einen Kommunisten versteckt, aber darüber konnte Eva nichts Näheres erfahren. Eva hatte gelernt, dass alles, was mit ihrem Vater zusammenhing, für ihre Mutter von größter Wichtigkeit war – auch sechs Jahre nach seinem jähen Tod durch einen Hirnschlag. Eva schämte sich manchmal, weil sie sich selbst nur noch verschwommen an ihren Vater erinnerte, während er für ihre Mutter so präsent blieb. Bis heute hatte sie sich nicht von dem großen Doppelbett im Schlafzimmer getrennt, und sie fuhr auch weiterhin seinen alten Mercedes, obwohl Eva ihr mehrfach einen anderen Wagen schmackhaft machen wollte.
    »Ein ›Strich-Achter‹ ist nicht nur ein Auto«, predigte Hanna immer wieder. »Ein ›Strich-Achter‹ ist eine Lebenseinstellung.«
    Mit dieser »Lebenseinstellung« waren sie heute nach Hamburg gefahren. Eva dachte schaudernd an die Fahrt zurück. Ihre Mutter hatte den Wagen zu Hause in der prallen Sonne stehen lassen – sie schmorten darin wie in einem Ofen. Sie hatten zwar alle Fenster heruntergekurbelt, aber die Ledersitze waren so aufgeheizt, dass man sich fast den Rücken verbrannte.
    Eva ließ ihren Blick über die Festgesellschaft schweifen. Lauter Greise. Außer Tante Hedwig kannte sie nur das Ehepaar Pilz. Beide waren sehr alt und hutzelig. Sie hatten damals auch an der Beerdigung von Evas Vater teilgenommen. Der alte Pilz war ein Kriegskamerad von Evas Großvater. Frau
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