Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin
Autoren: Silke Schütze
Vom Netzwerk:
Pilz hatte Eva am Grab vorsichtig an sich gedrückt, und Eva hatte das Gefühl gehabt, eine vertrocknete Sonnenblume zu umarmen.
    Heute kam sie sich noch größer und ungelenker vor als damals. Wieder legte Frau Pilz ihre dünnen Ärmchen um ihre Schulter, und unter dem leichten Druck knickte Eva verlegen mit dem Oberkörper zusammen.
    Frau Pilz sagte leise: »Kind, wie schön, dich noch einmal zu sehen. Du warst so ein besonders tapferes kleines Mädchen.«
    Da schämte sich Eva für ihre schlechte Laune. Es war nett von Frau Pilz, sie als tapferes Mädchen zu bezeichnen. Eva fühlte die schwarze Verlorenheit, die sie nach dem Tod ihres Vaters erfüllt hatte, in sich aufsteigen. Wie immer, wenn jemand ihren Vater erwähnte.
    Jetzt lächelte Frau Pilz ihr aufmunternd zu. Sie zog die Augenbrauen hoch. Ihr Blick schien zu sagen: »Auch dieser Tag geht einmal vorbei.« Eva sah aber noch etwas anderes in den hellen Augen der alten Dame, etwas Wehmütiges, aber auch sehr Entschlossenes. So als ob auch sie sich von Herzen wünschte, woanders zu sein und der drückenden Schwüle des Raumes zu entkommen.
    Eva hörte, wie sie zu ihrem Mann sagte: »Es sieht nach einem Gewitter aus.«
    Eva schaute hinaus. Am Himmel ballten sich graue Wolken, einen Augenblick lang war kein Autolärm zu hören, nur der zitternde Ton eines Akkordeons drang klar und gläsern durchs Fenster. Ein Straßenmusiker spielte vor dem Restaurant. Die Melodie war melancholisch und süß. Herr Pilz sagte: »Liebling, hör mal, ist das nicht …« Eva sah schnell zu dem alten Paar hinüber. Frau Pilz legte ihre schmale, knochige Hand auf den Arm ihres Mannes. »Ja«, sagte sie. »Ja, das ist er. Unser Schwan aus dem ›Karneval der Tiere‹.« Sie fing Evas Blick auf und beugte sich leicht in ihre Richtung. »Ein wunderschönes Stück.« Ihr Mann nickte Eva nun ebenfalls zu und ergänzte den Namen des Komponisten, der sehr französisch klang und Eva nichts sagte. Was wohl das Stück für diese beiden alten Menschen bedeuten mochte? Es war kaum vorstellbar, dass diese Leute einmal jung und verliebt gewesen waren. Und doch musste es so sein. Wie sich alt werden wohl anfühlte? Nach einem letzten Ton verstummte das Spiel. Eva sah, dass ein Kellner in grüner Weste dem Musiker etwas Geld in die Hand drückte und mit einer eindeutigen Handbewegung aufforderte, das Grundstück zu verlassen. Aber dieser ließ sich nicht verjagen. Der Musiker bezog auf der anderen Straßenseite Stellung und war bald wieder zu hören. »Spielen Sie ein Instrument?«, wollte nun der alte Herr zu Evas Rechten wissen. Sie nickte geistesabwesend und beobachtete weiter den Straßenmusiker. In ihrem Dorf gab es so etwas selten. Die Einzigen, die unter freiem Himmel spielten, waren die Mitglieder des Posaunenchors beim Freiluftgottesdienst.
    »Was spielen Sie denn?«, hakte ihr Sitznachbar nach und schob die zerdrückten Kartoffeln auf seinem Teller zusammen.
    »Auch Akkordeon«, sagte Eva. »Bis zu meinem zwölften Lebensjahr habe ich Akkordeon gespielt.« Sie hätte genauso gut sagen können: »Bis zum Tod meines Vaters habe ich Akkordeon gespielt.« Aber sie schwieg. »Ah, Akkordeon!«, wiederholte ihr Sitznachbar, und Eva stellte sich matt auf einen langatmigen Vortrag über Musikinstrumente, die Freude am Musizieren und das Akkordeon im Besonderen ein. Doch in diesem Moment wurde die Tür des Speisesaals aufgerissen. Ein Windstoß fegte durch den Raum. Alle drehten sich um und sahen ein mittelaltes Ehepaar und einen halbwüchsigen Jungen in der Tür stehen. Tante Hedwig rief: »Spät kommt ihr, aber ihr kommt!« Dann stellte sie die Nachzügler vor. »Das sind Helga und Joachim Eisenthuer und ihr Sohn Daniel. Kommt her, meine Lieben!« Herr Eisenthuer war Rechtsanwalt und Steuerberater, so viel verstand Eva, als Tante Hedwig weitersprach. Frau Eisenthuer, eine schick gekleidete Blondine, deren Haare von einem dunklen Samtband zurückgehalten wurden, erinnerte an Gracia Patricia von Monaco. Doch Eva konnte ihre Augen nicht von dem Jungen abwenden. Er war groß, schlank, hatte einen dunklen Lockenkopf und ein klares Gesicht. Er mochte in ihrem Alter sein und lächelte sicher und freundlich in die Runde, was Eva unwillkürlich ärgerte. Sie hätte an seiner Stelle höchst verlegen dort gestanden und wäre mit gesenktem Kopf auf den nächstbesten leeren Stuhl gesunken. Dieser Junge aber steuerte direkt auf die Jubilarin zu.
    Tante Hedwig strahlte ihm entgegen und rief: »Je später der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher