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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel
Autoren: Tess Gerritsen
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    So ein Skalpell ist wunderschön.
    Das war Dr. Stanley Mackie zuvor nie aufgefallen. Doch als er jetzt, den Kopf gesenkt, unter den hellen OP-Lampen stand, gefiel es ihm, wie die scharfe Schneide das Licht funkelnd reflektierte. Ein kleines Kunstwerk, dieses halbmondförmige, rasiermesserscharfe Stück aus rostfreiem Stahl. So schön, daß er kaum wagte, es in die Hand zu nehmen, weil er fürchtete, am Ende seine magische Aura zu zerstören. Auf der Klinge spiegelte sich das Licht in seinem ganzen Spektrum, wie ein kleiner Regenbogen.
    »Dr. Mackie? Stimmt etwas nicht?«
    Er sah auf. Die OP-Schwester neben ihm runzelte die Stirn über ihrem Mundschutz. Er hatte bisher noch nie gemerkt, wie grün ihre Augen waren. Anscheinend sah er eine Menge Dinge zum erstenmal, oder er nahm sie erstmals zur Kenntnis. Ihre zarte, cremefarbene Haut. Die Ader, die über ihre Schläfe lief.
    Das kleine Muttermal direkt über ihrer Augenbraue. War es wirklich ein Muttermal? Es bewegte sich, kroch wie ein mehrbeiniges Insekt auf ihren Augenwinkel zu …
    »Stan?« Dr. Rudman, der Anästhesist, wandte sich an ihn. Seine Stimme fuhr in Mackies Gedanken. »Geht es Ihnen gut?«
    Mackie schüttelte den Kopf. Das Insekt verschwand. Es war jetzt wieder ein Muttermal, ein kleiner dunkler Pigmentfleck auf der blassen Haut der Schwester. Er holte tief Luft, nahm das Skalpell vom Instrumententablett und sah auf die Frau vor ihm auf dem Operationstisch.
    Die Overhead-Lampe war bereits auf das Abdomen der Patientin ausgerichtet. Die blauen Abdecktücher gaben ein Rechteck frei, das ihre Haut zeigte. Es war ein schöner, flacher Bauch mit den Konturen eines Bikinihöschens, die die beiden hochstehenden Hüftknochen miteinander verbanden – ein seltener Anblick in dieser Zeit der Schneegestöber und der winterblassen Gesichter. Was für eine Schande, daß er in diese jungfräuliche Bauchdecke einen Schnitt machen mußte. Bestimmt würde die Blinddarmnarbe in Hinkunft all die schönen karibischen Brauntöne verschandeln.
    Er setzte die Spitze der Klinge auf die Haut, genau auf den Mac-Burney-Punkt zwischen dem Nabel und dem hervorstehenden rechten Hüftknochen. Annähernd der Punkt, an dem der Appendix sich befand. Das Skalpell war stichbereit an der Stelle, da hielt er plötzlich inne.
    Seine Hand zitterte.
    Er verstand es nicht. Das war ihm bisher noch nie passiert.
    Stanley Mackie hatte immer die ruhigsten Hände gehabt, die man sich denken konnte. Und nun mußte er sich furchtbar anstrengen, das Skalpell auch nur festzuhalten. Er schluckte und hob die Klinge ein wenig an.
Ganz ruhig. Tief durchatmen. Das geht vorbei.
    »Stan?«
    Mackie sah auf. Jetzt runzelte Dr. Rudman die Stirn. Und auch die beiden Schwestern. Mackie las die Fragen in ihren Augen, die gleichen Fragen, die man sich seit Wochen über ihn zuflüsterte.
    Ist der alte Dr. Mackie noch auf der Höhe? Sollte man ihm mit seinen 74 Jahren noch erlauben zu operieren?
Er ignorierte ihre Blicke. Er hatte sich bereits vor dem Ausschuß verteidigt, vor dem er seine Arbeit zu verantworten hatte. Er hatte die Umstände zu ihrer Zufriedenheit erklärt, die zum Tod seines letzten Patienten geführt hatten. Das Chirurgenhandwerk war schließlich keine Kunst ohne Risiko. Wenn zuviel Blut in die Bauchhöhle floß, dann passierte es nun einmal zu leicht, daß man nicht mehr die richtige Stelle fand und einen falschen Schnitt ansetzte.
    Der Ausschuß hatte ihn, dies alles wohl wissend, von sämtlichen Vorwürfen freigesprochen.
    Trotzdem waren dem medizinischen Stab des Kranken-hauses Zweifel geblieben. Er sah es den Gesichtern der Schwestern und der gerunzelten Stirn Dr. Rudmans an. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Und plötzlich spürte er auch noch andere Blicke. Oberhalb von ihm schwebten Augäpfel zu Dutzenden in der Luft, und alle starrten ihn an.
    Er blinzelte. Die schreckliche Vision war wieder vorbei.
    Meine Brille,
dachte er.
Ich muß unbedingt meine Brille überprüfen lassen.
    Ein Schweißtropfen rann ihm über die Wange. Er faßte den Griff des Skalpells fester. Das hier war nur eine schlichte Blinddarmoperation, eine Aufgabe, die man sogar einem Anfänger zumuten konnte. Natürlich konnte er so etwas auch noch mit zitternden Händen.
    Er konzentrierte sich auf die Bauchdecke seiner Patientin, auf dieses flache, goldbraune Stück Haut. Jennifer Halsey, 36 Jahre alt. Sie kam aus einem anderen Bundesstaat und war heute morgen in ihrem Bostoner Motel mit Schmerzen im rechten unteren
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