Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
die Stunden, die es dauern würde, bis er an Tobys Bett säße.
    Dagegen war nichts zu machen. Das hier mußte getan werden. Er zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche. »Also dann, an die Arbeit«, sagte er und sah in den Kofferraum.
    Sheehan richtete seine Taschenlampe auf das Gesicht der Toten.
    Eine Zeitlang brachte Dvorak kein Wort heraus. Er sah dem Mädchen ins Gesicht, erkannte den Bluterguß, der ihre zarte Haut entstellte, die grauen Augen, offen und blicklos. Aus ihnen hatte einmal eine Seele geblickt, und er hatte ihren Schein gesehen.
Wo
bist du wohl jetzt?
fragte er sich.
Hoffentlich an einem Ort, wo es dir gutgeht. Wo es warm ist und freundlich und sicher.
    Sanft schloß er ihr die Augen.
    Draußen im Gang lachten Schwestern und unterhielten sich. Es riß Dvorak aus einem unruhigen Schlaf. Er öffnete die Augen.
    Tageslicht fiel durch das Fenster herein. Er saß in einem Sessel neben Tobys Krankenhausbett. Sie schlief noch, atmete ruhig und stetig. Auf ihren Wangen lag ein rosa Schimmer. Den Schmutz hatten sie ihr letzte Nacht größtenteils vom Gesicht gewischt, doch in ihrem Haar glänzten noch ein paar Sandkörner.
    Er stand auf, streckte sich und massierte den steif gewordenen Nacken. Wenigstens kam heute die Sonne heraus, dachte er beim Blick aus dem Fenster. Nur ein schmaler Wolkenfetzen zog über den Himmel.
    Hinter ihm murmelte eine Stimme: »Ich hatte einen furchtbaren Alptraum.«
    Er sah sich um und begegnete Tobys Blick. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er umschloß sie warm mit seinen beiden Händen und setzte sich zu ihr.
    »Aber es war gar kein Traum, nicht wahr?« sagte sie.
    »Nein. Ich fürchte, er war nur zu wahr.«
    Sie lag einen Augenblick schweigend da und runzelte die Stirn, als versuchte sie, alle ihre Erinnerungsfragmente zu einem verständlichen Ganzen zusammenzubringen.
    »Wir haben nun ihre Krankengeschichten gefunden«, sagte Dvorak.
    Sie sah ihn fragend an.
    »Sie haben über alle Transplantationen Buch geführt. Neunundsiebzig Aktenordner, im Keller des Howarth Building aufbewahrt. Personalien von Patienten, Behand-lungsprotokolle, Katamnesen von Schädeleingriffen.«
    »Sie haben die Daten kompiliert?«
    Er nickte. »Um ihre Erfolgsmeldungen zu unterfüttern. Wie es aussieht, haben die Implantate etwas gebracht.«
    »Und gefährlich waren sie auch«, fügte sie leise hinzu.
    »Ja. Anfang letzten Jahres gab es eine Gruppe Patienten, bei denen Wallenberg noch mit abgetriebenen Föten gearbeitet hat. Fünf Männern wurden Implantate aus dem gleichen fötalen Zellenpool appliziert. Sie wurden alle zur gleichen Zeit infiziert. Es dauerte ein Jahr, bis sich beim ersten Symptome zeigten.«
    »Dr. Mackie?«
    Er nickte.
    »Du sprachst von neunundsiebzig Aktenordnern. Was ist mit all den anderen Patienten?«
    »Sie leben und sind gesund. Sind aufgeblüht. Womit wir vor einem moralischen Dilemma stehen. Was, wenn diese Behandlungsmethode wirklich anschlägt?«
    Ihr verwirrter Gesichtsausdruck sagte ihm, daß sie seine Bedenken teilte.
    Wie weit dürfen wir gehen, um das Leben zu verlängern? Wieviel an Humanität opfern wir dabei?
    Plötzlich sagte sie: »Ich weiß, wo wir Harry Slotkin finden.«
    Sie sah ihn mit einem erschreckend klaren Blick an. »In Brant Hill – in dem neuen Flügel mit dem Schwestern-wohnheim. Vor ein paar Wochen haben sie die Fundamente gegossen.«
    »Ja, Wallenberg hat davon gesprochen.«
    »Wallenberg hat es erwähnt?«
    »Sie liefern sich jetzt gegenseitig ans Messer. Wallenberg und Gideon gegen die Trammells. Es ist ein Wettlauf darum, wer wem was anhängt. Im Moment scheinen die Trammells am tiefsten drinzustecken.«
    Toby sagte nichts mehr und sammelte Mut für die nächste Frage: »Wer hat Robbie auf dem Gewissen?«
    »Richard Trammell. Die Waffe war auf seinen Namen registriert. Wir nehmen an, daß die ballistische Über-prüfung es bestätigt.«
    Sie nickte und nahm die schmerzliche Nachricht schweigend zur Kenntnis. Er sah Tränen in ihre Augen steigen und beschloß, ihr das von Molly später zu erzählen. Es war jetzt nicht der Zeitpunkt, sie mit noch einer Tragödie zu belasten.
    Es klopfte. Vickie trat ins Zimmer. Sie wirkte blasser als in der Nacht, als sie Toby zum erstenmal besucht hatte. Blasser und seltsam ängstlich. Sie blieb ein paar Schritte vom Bett entfernt stehen, als zögere sie näher zu treten.
    Dvorak stand auf. »Ich lasse euch beide am besten allein«, sagte er.
    »Nein, bitte nicht«, sagte Vickie. »Sie müssen nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher