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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel
Autoren: Tess Gerritsen
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gehen.«
    »Ich gehe nicht weg.« Er beugte sich zu Toby und gab ihr einen Kuß. »Aber ich warte draußen.« Er richtete sich auf und ging zur Tür.
    Dort blieb er stehen und blickte zurück.
    Vickie riß sich mit einemmal wie von einer unsichtbaren Fessel los, war mit drei schnellen Schritten am Bett ihrer Schwester und nahm Toby in die Arme.
    Dvorak wischte sich mit der Hand über die Augen und verließ leise das Zimmer.
    Zwei Tage später.
    Das Atemgerät war auf zwanzig Züge pro Minute eingestellt.
    Jedem Schub folgte ein Seufzer, mit dem die Luft wieder aus den Lungen entwich. Toby tat der Rhythmus wohl, während sie ihrer Mutter die Haare kämmte und ihren Körper und die Gliedmaßen wusch. Der Waschlappen glitt über Stellen, die ihr zu vertraut waren. Den sternförmigen Pigmentfleck am linken Arm. Die Narbe von der Biopsie an der Brust. Den arthritischen Finger, wie ein Krummstab gebogen. Doch die Narbe da am Knie – woher hatte Ellen die? Sie sah alt aus, gut verheilt, fast nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich stammte sie aus der Kindheit ihrer Mutter. Das helle Licht der Intensivstation offenbart erst, dachte sie, was Mom all die Jahre schon gehabt hatte und ihr nie aufgefallen war.
    »Toby?«
    Sie drehte sich um und sah Dvorak in der Tür der kleinen Kabine. Wahrscheinlich stand er dort schon eine ganze Weile. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Das war einfach so Dvoraks Art. In den anderthalb Tagen, die sie jetzt im Krankenhaus war, wachte Toby zum Beispiel auf und glaubte, allein zu sein. Dann mußte sie nur den Kopf drehen, und schon sah sie, daß er bei ihr saß, schweigend und unauffällig, daß er sie bewachte. So wie jetzt.
    »Deine Schwester ist gerade gekommen«, sagte er. »Dr. Steinglass ist auf dem Weg hierher.«
    Toby sah auf ihre Mutter hinab. Ellens Haar lag über das Kopfkissen gebreitet. Es sah nicht aus wie das Haar einer alten Frau, sondern wie die dichte Mähne eines jungen Mädchens, hell, wie vom Wind zerzauste Silberfäden. Toby beugte sich über ihre Mutter und berührte mit ihren Lippen Ellens Stirn.
    »Gute Nacht, Mom«, flüsterte sie und ging hinaus. Auf der anderen Seite der Sichtscheibe setzte sie sich neben Vickie. Dvorak stand hinter ihnen. Sie sahen ihn nicht, spürten aber seine Gegenwart. Durch die Scheibe sahen sie Dr. Steinglass zum Beatmungsgerät gehen. Er sah Toby mit schweigendfragendem Blick an.
    Sie nickte.
    Er schaltete die Maschine ab.
    Ellens Brust hob und senkte sich nicht mehr. Zehn Sekunden vergingen schweigend.
    Vickie griff nach Tobys Hand und drückte sie fest.
    Ellens Brust bewegte sich nicht mehr.
    Vom ersten Tag unserer Geburt an ist der Tod das Ziel, auf das wir hintreiben,
dachte Toby.
Nur den Tag und die Stunde, wann wir ankommen, wissen wir nicht.
    Für Ellen war die Reise an einem Nachmittag im Spätherbst um zwei Uhr fünfzehn zu Ende.
    Daniel Dvorak mochte dem Tod in zwei oder in vierzig Jahren begegnen. Er könnte sich mit einem Tremor in den Händen melden oder ohne jede Vorwarnung in der Nacht, während seine Enkel im Zimmer nebenan schliefen. Er würde lernen, mit dieser Unsicherheit fertig zu werden, wie das die Menschen mit all diesen Unsicherheiten in ihrem Leben tun mußten.
    Und wir?
    Toby preßte die Hände gegen die Scheibe und spürte mit den Fingerspitzen ihren Puls, warm und fest.
Einmal bin ich schon gestorben,
dachte sie.
    Das hier war ein ganz neues Leben.
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