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Nacht des Verfuehrers - Roman

Nacht des Verfuehrers - Roman

Titel: Nacht des Verfuehrers - Roman
Autoren: Lydia Joyce Gabi Langmack
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Kapitel 1
    Alcyone Carter hatte Angst.
    Sie saß steif auf dem durchhängenden Rücken des Maultiers und umklammerte fest den Sattelknauf. Ihre Finger hatten Verkrampfung und Schmerz längst hinter sich gelassen und schon den gesegneten Zustand der Taubheit erreicht. Die Zügel, für die sie keine Verwendung hatte, hingen lose herab und schlugen bei jedem Schritt sanft an den Hals ihres Reittiers; es folgte dem Führungsseil, das sich straff in den Nebel spannte. Allein dieses Seil und hin und wieder ein gedämpfter Hufschlag gaben Alcy die Gewissheit, dass ihr unsichtbarer Führer noch vor ihr war, und allein die blinde, verzweifelte Hoffnung ließ sie glauben, dass er eine Vorstellung hatte, wohin sie ritten.
    Um sie herum zog die Welt sich zusammen, wurde klein und konturlos wie das Innere eines Eis. Der wirbelnde Nebel verschluckte ihre Füße und hüllte selbst ihre Hände ein, die nur einen guten halben Meter von ihrem Gesicht entfernt waren. Die wenigen schwachen Sonnenstrahlen, welche die dicke Decke durchdrangen, sprangen umher, bis sie sich schließlich in ein spärliches, gleichmäßiges Licht verwandelten, das die Schatten abflachte und jedes Raumgefühl zunichtemachte.
    Von hinten drangen die geflüsterten französischen Gebete und das Rattern der Rosenkranzperlen wie das trockene
Gescharre von Insektenbeinen an ihr Ohr. Celeste, ihre Kammerzofe, hatte sich schon vor den Maultieren gefürchtet, als sich neben dem schmalen Pfad noch kein jäher Abgrund aufgetan hatte; jener Abgrund war das Letzte gewesen, das sie hatten sehen können, bevor der Nebel sie eingehüllt hatte. Celeste war inzwischen der Hysterie nahe.
    Alcy war hin- und hergerissen zwischen Ärger und Neid. Sie war das Lamento der Zofe leid und wünschte doch, auch sie könnte ihre zunehmende Angst hinter theatralischem Gehabe verbergen. Sie fühlte sich hilflos, und – was die Sache nur noch schlimmer machte – sie wusste, dass sie verboten aussah. Sie hatte ihr Reitkostüm jetzt den sechsten Tag in Folge an, und selbst Celestes nächtliche Bemühungen konnten nicht verhindern, dass die zarte graue Seide und die glänzenden Goldborten Schlamm- und Wasserflecken aufwiesen und trotz des Aufbügelns Falten zu sehen waren. Das Kostüm war für zivilisierte zweistündige Ausritte in gut gepflegten Parkanlagen gemacht, nicht für eine endlose Reise durch die Wildnis. Alcys Haar war es bei Wind und Nässe kaum besser ergangen, und Alcy empfand es als persönliche Beleidigung, wie sich ihre Frisur allen Haarnadeln und Bändern widersetzte.
    »Wie weit noch?«, rief Alcy auf Deutsch ihrem Führer zu. Ihre Stimme drang schrill und unnatürlich laut durch den toten Nebel. Sie versuchte es noch einmal, um Unbekümmertheit bemüht: »Wann sind wir da? Sie haben gesagt, heute sei der letzte Tag.«
    »Jetzt, Fräulein«, wehte die Antwort durch das Weiß.
    Alcy spürte plötzlich eine Weite um sich herum, als seien sie über die Felsenklippe hinaus, die ihnen während
des Aufstiegs von der einen Seite Schutz geboten hatte. Hatten sie den Gipfelgrat erreicht?
    Wie zur Antwort fegte eine Brise durch die träge Luft und zerfetzte den Nebel in lange Streifen, die wie tausend Schleier flatterten. Durch den aufgerissenen Dunst wurde der Führer sichtbar, und Alcy sah ihm zu, wie er sein Reittier zum Halten brachte. Ihr eigenes Maultier trottete noch ein paar Schritte weiter, bevor es Nase an Schweif hinter dem Leittier stehen blieb.
    »Warum halten wir an?«, fragte sie, wischte sich das ungebärdige Haar aus den Augen und hasste das nervöse Schrillen ihrer Stimme.
    »Geduld«, sagte der Mann teilnahmslos. Er hatte während der letzten sechs Tage jede Frage so teilnahmslos beantwortet.
    Alcy hatte keine andere Wahl, also blieb sie sitzen und wartete, spähte durch den Nebel nach einer Spur dessen, was sie erwarten mochte. Die Brise frischte zu einem Wind auf, und sie folgte dem abfallenden Pfad durch die aufklarende Luft mit den Augen bis zu jener Stelle, wo die Felsaufwallung vom dunklen Dickicht des Waldes geschluckt wurde. Sie konnte von ihrem Aussichtspunkt über die ausgezackten Baumwipfel sehen und die gegenüberliegende Seite des Tals ausmachen …
    … und die Burg, die über dem Tal thronte. Sie stand am Rand eines felsigen Abhangs, nur ein wenig höher als der Bergkamm, auf dem sie rasteten, eisengrau und mit jäh abfallenden Mauern, die ausgezahnten Zinnen ungerührt auf den Wald herabgrinsend. Sie wirkte genauso uralt wie die Berge und nicht
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