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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel
Autoren: Tess Gerritsen
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Quadranten aufgewacht. Die Schmerzen waren immer heftiger gewor-den, und so war sie durch dichtes Schneetreiben halbblind zur Notaufnahme des Wicklin Hospitals gefahren und dem diensthabenden Chirurgen unters Messer geraten: Dr. Mackie. Von den Gerüchten um seine nachlassenden Fähigkeiten und den falschen Anschuldigungen hinter seinem Rücken, die langsam sein Können und seine Erfahrung immer mehr in Frage stellten, wußte sie nichts. Sie war bloß eine Frau mit Schmerzen im Bauch, der der entzündete Blinddarm herausgenommen werden mußte.
    Er drückte die Klinge auf Jennifers Haut. Seine Hand war wieder ruhig. Er konnte es. Natürlich konnte er es. Er setzte den Schnitt, glatt und sauber. Die OP-Schwester assistierte ihm, reichte ihm Tupfer, tupfte selbst Blut ab. Er schnitt tiefer durch das subkutane Fett, hielt immer wieder an und kauterisierte.
    Kein Problem. Alles lief perfekt.
Er würde es schaffen, den Appendix entfernen, zumachen. Dann würde er am Nachmittag heimgehen. Nach einer kleinen Ruhepause würde er wieder einen klaren Kopf haben.
    Er drang durch das schimmernde Bauchfell in die Bauchhöhle.
    »Zurückziehen«, sagte er.
    Die OP-Schwester setzte die Haken an und zog die Wunde vorsichtig auf.
    Mackie faßte hinein und spürte den Darm warm und glitschig zwischen seinen behandschuhten Fingern. Was für ein wunderbares Gefühl, seine Hände in der Wärme eines menschlichen Körpers zu bergen. Es war wie eine Rückkehr in den Mutterschoß. Er hob den Appendix heraus. Ein kurzer Blick auf das rotgeschwollene Gewebe sagte ihm, daß er korrekt diagnostiziert hatte. Dieser Blinddarm mußte entfernt werden. Er griff nach dem Skalpell.
    Nur als er sich den erforderlichen Schnitt noch einmal genau anschaute, merkte er, daß etwas nicht stimmte.
    In der Bauchhöhle war viel mehr Eingeweide, doppelt soviel, wie zu erwarten. Viel mehr, als die Frau brauchte. Das war nicht in Ordnung. Er griff nach einer kleinen Darmschlinge, spürte, wie sie ihm glatt und warm über die Hand glitt. Mit dem Skalpell trennte er das überschüssige Stück Darm ab und warf das tropfende Ende in den Instrumentenkorb. Na also, dachte er.
    Das sah doch schon viel ordentlicher aus.
    Die OP-Schwester starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen über den Mundschutz an. »Was
tun
Sie denn da?« schrie sie.
    »Zuviel Eingeweide«, antwortete er ruhig. »Das braucht sie nicht.« Er griff in die Bauchhöhle und packte eine neue Darmschlinge. Kein Bedarf für soviel überflüssiges Gedärm. Verlegte ihm nur den Blick auf die wesentlichen Dinge.
    »Dr. Mackie, nein!«
    Er säbelte weiter. Blut schoß im hohen Bogen aus dem abgetrennten Stück.
    Die Schwester packte seine Hände in dem dünnen Handschuh.
    Er schüttelte sie wütend ab. Was für eine Unverfrorenheit, daß eine schlichte Schwester es wagte, die Prozedur zu unterbrechen.
    »Ich will eine andere OP-Schwester«, verlangte er gebieterisch.
    »Absaugen. Das Blut muß umgehend abgesaugt werden.«
    »Haltet ihn auf! Helft mir, ihn aufzuhalten …«
    Mit seiner freien Hand griff Mackie nach dem Saugrohr und schob es in die Bauchhöhle. Blut gurgelte durch die Röhre und rann ins Reservoir.
    Eine Hand packte seinen Kittel und zog ihn vom Operationstisch weg. Es war Dr. Rudman. Mackie versuchte, auch ihn abzuschütteln. Aber Rudman ließ nicht los.
    »Legen Sie das Skalpell hin, Stan.«
    »Sie muß ausgeräumt werden. Viel zuviel Gedärme.«
    »
Legen Sie es hin!
«
    Mackie riß sich los und baute sich vor Rudman auf. Daß er das Skalpell noch in der Hand hielt, war ihm gar nicht mehr bewußt. Die Klinge schlitzte den Hals des anderen auf.
    Rudman schrie auf und drückte die Hand gegen seinen Hals.
    Mackie trat einen Schritt zurück und starrte auf das Blut, das zwischen Rudmans Fingern hervorquoll. »Nicht meine Schuld«, sagte er. »Das ist nicht meine Schuld!«
    Eine Schwester kreischte in die Sprechanlage: »Schickt den Sicherheitsdienst! Er dreht uns hier durch. Wir brauchen augenblicklich den Sicherheitsdienst!«
    Mackie stolperte durch rutschige Blutpfützen weiter nach hinten. Rudmans Blut. Jennifer Halseys Blut. Ein See, der sich immer weiter ausbreitete. Er drehte sich um und war mit einem Satz aus dem Raum.
    Sie rannten ihm nach. Er floh in blinder Panik durch den Gang und irrte durch das Labyrinth von Fluren und Korridoren. Wo war er? Warum kam ihm nichts mehr bekannt vor? Dann sah er geradeaus vor sich ein Fenster und dahinter den wirbelnden Schnee.
Schnee.
Das kalte weiße
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