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Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum
Autoren: Ines Thorn
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1
    Die feuchte Hitze der letzten Sommertage setzte den Bewohnern der Küstenstadt Adelaide zu. Seit Tagen wirbelte der heiße Nordwind den grauen Staub auf, der alles mit einer feinen Schicht bedeckte. In den Tonnen verfaulten die Abfälle schneller, als die Müllabfuhr sie beseitigen konnte, und erfüllten die Luft mit einem süßen, schweren Geruch, der in die Kleider drang, sich im Haar festsetzte und als schaler Geschmack auf der Zunge lag. Das schwüle Wetter klebte auf der Haut und legte sich dunkel auf die Seele. Die Menschen bewegten sich langsam und träge mit gebeugten Rücken, hängenden Schultern und müden Gesichtern. Selbst die Aborigines, die die Hitze gewohnt waren, dösten bewegungslos im Schatten der großen Akazien und Eukalyptusbäume.
    Doch unerwartet schlug das Wetter um. Am Himmel ballten sich dunkle Wolken zu schwarz-violetten Gebirgen mit roten Feuerrändern auf. Der Wind drehte, kam nun aus dem Süden, zauste die Blätter der Eukalyptusbäume und trieb Papierfetzen und Staub vor sich her.
    Die Menschen, eben noch matt und hitzeschwer, wischten sich den klebrigen Schweiß von der Stirn und sahen sich um, als wären sie aus einem tiefen Schlaf erwacht. Sie blickten aufgeschreckt zum Himmel, dann stemmten sie sich gegen den Wind und hasteten davon, um sich vor dem drohenden Unwetter in Sicherheit zu bringen.
    Amber stand im ersten Stock des Agrarcolleges auf dem Gang und sah auf den Parkplatz hinunter, auf dem die wimmelnde Geschäftigkeit sich innerhalb weniger Augenblicke aufgelöst hatte und ein lebloses, verlassenes Stück gepflasterte Erde zurückließ.
    Ihre Blicke verfolgten eine Zeitung, die vom Wind zum Tanzen aufgefordert worden war und mit graziösen Drehungen über den Platz wirbelte.
    »Jetzt kommt die lang erwartete Abkühlung«, sagte eine Stimme neben ihr.
    Amber sah zu einem groß gewachsenen Mann auf, der eine ruhige Würde und Gelassenheit ausstrahlte.
    »Ja«, erwiderte sie. »Es wird wohl Zeit, dass ich aufbreche.«
    Der Mann neben ihr nickte. »Nun beginnt das Leben für dich, nicht wahr? Du bist die einzige Frau im ganzen Barossa Valley, die einen Abschluss in Agrarwirtschaft und Weinbau hat. Dein Vater kann sehr stolz auf dich sein.«
    Amber lächelte. Nein, eigentlich war es kein Lächeln. Sie zog die Mundwinkel ein Stück nach oben, doch ihre Augen verharrten in einem nachdenklichen Ausdruck.
    »Ja. Das ist wohl so. Jetzt beginnt das Leben … der Ernst des Lebens. So sagt man doch, nicht wahr?«
    Der Professor sah Amber mit hochgezogenen Augenbrauen an, doch sie blickte aus dem Fenster und schwieg. Er folgte ihrem Blick bis zum Parkplatz und sah einen Mann, der sich an einen zerbeulten dunkelgrünen Landrover lehnte.
    Der Mann trug eine dunkle Jeans und trotz der Hitze ein langärmeliges Hemd mit offenem Kragen. Er hatte sich den Hut ins Gesicht gezogen, stützte sich mit gekreuzten Beinen und verschränkten Armen am Kühler des Autos ab und schien im Stehen zu schlafen. Neben ihm lag ein Strauß Blumen, der bereits gelitten hatte.
    »Das ist euer Verwalter, nicht wahr?«, fragte der Professor und deutete mit der Hand auf den Mann.
    Amber nickte und öffnete den Mund, doch das erste Donnergrollen ließ sie innehalten.
    Der Professor legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du musst dich beeilen, wenn du noch vor dem Gewitter wegkommen willst. Ich wünsche dir alles Gute, Amber. Komm uns besuchen. Und komm vor allem, wenn du Hilfe brauchst.«
    Er sah sie mit einem warmen Lächeln an. »Ich bin stolz darauf, eine so kluge Schülerin gehabt zu haben.«
    Dann wandte er sich um und ging davon.
    »Danke! Danke schön für alles«, rief Amber ihm hinterher. Der Professor hob eine Hand, winkte noch einmal, ohne sich umzudrehen, und verschwand um eine Ecke.
    Amber seufzte und strich mit der Hand behutsam über die rote Mappe, in der sie ihr Diplom aufbewahrte. »Ich bin der erste Winemaker«, flüsterte sie. »Der erste weibliche Winemaker in Barossa Valley!« Sie lauschte ihren Worten nach.
    Seit knapp einer Stunde besaß sie das Diplom. Sie hätte den Augenblick des Stolzes, des Triumphes gern noch etwas ausgekostet. Ganz für sich allein. Sie hatte den Abschluss in der Hand, aber noch nicht im Herzen. Sobald sie das College verlassen hatte, würde sie den Stolz teilen müssen.
    Der Parkplatz hatte sich merklich geleert. Nur der Wagen des Professors und der Lieferwagen des Internatsleiters standen noch dort. Und der Landrover von Steve Emslie mit dem weißen Aufdruck
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