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Kölner Kulissen

Kölner Kulissen

Titel: Kölner Kulissen
Autoren: Sascha Pranschke
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EINS
    Der Rucksack scheint sie anzustarren. Die halbe Nacht hat sie am Kopfende ihres Bettes gekauert, die Beine zum Körper gezogen, mit den Armen die Knie umklammernd. In dieser Haltung ist sie gegen Morgen endlich eingeschlafen. Sobald sie die Augen aufschlägt, ist da wieder das Reptil, der Rucksack aus Krokodilleder. Er liegt dem Bett gegenüber, neben der Tür, und sieht so aus, als würde er sich im nächsten Moment bewegen. Je länger sie ihn anstarrt, desto fester glaubt sie daran. Irgendwann muss sie ihn öffnen. Muss sie die Weinflasche beseitigen und das Kleid waschen. Irgendwann, später.
    Paula nimmt alle Kraft zusammen, steigt aus dem Bett und eilt an dem Rucksack vorbei durch die Tür. Im Badezimmer streift sie Vicos Jogginganzug ab. Wie hat sie nur darin schlafen können? Sie duscht heiß und lange. Es tut weh, doch sie dreht das Wasser erst ab, als ihre Haut krebsrot ist.
    Im Morgenmantel geht sie in die Küche. Unter ihren nackten Fußsohlen ist das Linoleum angenehm kühl. Sie öffnet das Fenster. Sofort füllt Verkehrslärm den Raum. Keine hundert Meter entfernt führt die Zoobrücke an ihrer Wohnung vorbei. Paula sieht auf die Uhr: kurz vor acht. Ob ihn schon jemand gefunden hat?
    Sie schaltet das Radio ein. Noch laufen Werbespots, die Nachrichten beginnen in wenigen Augenblicken. Sie dreht das Radio lauter, bis der Verkehr nicht mehr zu hören ist. Dabei ist sie froh über den Lärm. Er übertönt das sich ständig wiederholende Geräusch in ihrem Kopf: den dumpfen Schlag mit der Weinflasche gegen Vicos Schädel. Sie dreht das Radio auch nicht leiser, als sie ihre eigene Stimme hört. Es ist die Spülmittelwerbung:
    »Ich spüle nur mit Klipp und klar ,
    so werden Küchenträume wahr!«
    Dazu ein Gospelchor:
    »Küchenträume werden wahr,
    oh yeah, oh jaaaaa …
    mit Klipp und klar !«
    Ihr wird schlecht. Sie rennt zurück ins Bad, reißt den Toilettendeckel hoch und beugt sich über die Schüssel. Es kommt nur ein wenig Schleim. Als zäher Faden bleibt er an ihrer Unterlippe hängen. Ihr Magen ist leer. Sie reißt Papier von der Rolle und wischt sich den Mund ab.
    Im Radio beginnen die Nachrichten. Paula setzt sich auf den gefliesten Boden. Den Rücken gegen den Heizkörper gelehnt hört sie zu.
    Nichts. Keine Meldung über einen Leichenfund im Kölner Süden. Wahrscheinlich ist es noch zu früh. Vielleicht hält die Polizei die Nachricht auch zurück. Bei Morden an Prominenten ist die Presse noch lästiger als sonst.
    Mord … trifft das überhaupt zu?
    Nein, sie hat sich nur gewehrt.
    Gegen einen Freund?
    Er ist zudringlich geworden.
    Hat sie das nicht oft zugelassen?
    Aber er hat sie beleidigt.
    Und rechtfertigt das, ihn zu schlagen?
    Nein, auf keinen Fall. Und doch hat sie es getan. Heute fragt sie sich, wie sie danach so ruhig bleiben konnte. Warum sie Vicos Körper gestern Abend so gleichmütig betrachtet hat. Heute kann sie sich ihre fehlende Anteilnahme nicht erklären. Gestern Abend war da nur die nüchterne Erkenntnis: Er ist tot, und sie kann das nicht ändern. Heute sagt sie sich, dass sie unter Schock stand. Unter Schock reflektiert man nicht. Unter Schock funktioniert man nur. Unter Schock ist jeder nur sich selbst der Nächste.
    Sie stützt sich auf dem Heizkörper ab, steht auf und zieht die Toilettenspülung. Kein Wasser. Schon zum dritten Mal in diesem Monat. Ihr Vermieter hat längst versprochen, einen Klempner zu schicken. Sie zieht den Eimer unter dem Waschbecken hervor, der das Wasser aus dem undichten Abflussrohr auffängt. Damit spült sie ihren galligen Schleim die Toilette hinunter. Als sie den Eimer zurückstellt, entdeckt sie einen neuen Schimmelfleck an der Wand unter dem Waschbecken. Sie muss raus aus dieser Wohnung. Sie muss endlich etwas Bezahlbares und trotzdem Schimmelfreies finden. Am liebsten auf der anderen Rheinseite, in Nippes oder Ehrenfeld. Sie muss endlich wieder eine Rolle ergattern. Sie muss … zuallererst die Sachen aus dem Rucksack loswerden.
    Warum hat sie das nicht schon letzte Nacht erledigt? Was ist daran so schwierig? Die Weinflasche kommt in den Glascontainer unten an der Straße. Daneben steht auch ein Container für Altpapier, da kommt das Drehbuch rein. Das champagnerfarbene Kleid wird sie waschen. Aber große Hoffnung, die roten Flecken herauszubekommen, hat sie nicht. Ihr Premierenkleid, verdammt! Sie hat es zur Premiere von »Sonnenwende« getragen. Für Vico und sie bedeutete der Film 1999 den Durchbruch. Paula war dreiundzwanzig,
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