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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin
Autoren: Silke Schütze
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jeden Fall enthalten?«
    Die kenne ich genau. Der Moment, als Nick mich zum ersten Mal küsste. Der Moment, als man mir Benny als quäkendes Bündelchen auf den Bauch legte.
    Aber dann gibt es noch einen Moment, von dem ich niemals jemandem erzählt habe, weder meinem Mann noch meiner besten Freundin. Das war der Moment, als Daniel mich an jenem Sommertag bei der Hand nahm und sagte: »Lass uns abhauen.«

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    1 . Kapitel
    Beschreibe den schlimmsten Tag, den Du je erlebt hast.
(Gesprächsstoff: Original)
    Mittwoch, Tag 1
    M orgens um Viertel nach sieben. Während ich das Kaffeepulver in den Filter der Kaffeemaschine löffle, fühle ich mich wie in einer Zeitschleife. Genau dasselbe habe ich gestern um diese Uhrzeit auch getan. Und ich werde es morgen wieder tun. Und übermorgen und überübermorgen. Aufstehen, duschen, Kaffeepulver in den Filter der Kaffeemaschine löffeln. Mein Leben ist eine endlose Reihe von Kaffeelöffeln. Wenn ich dereinst vor dem himmlischen Vater stehe, werde ich auf die Frage »Was hast du in deinem Leben gemacht?« zumindest eines mit Überzeugung sagen können: »Ich habe täglich Kaffeepulver in den Filter der Kaffeemaschine gelöffelt.«
    Der Rasen im Garten ist von glitzernden Tauperlen überzogen, als habe die Morgensonne Pailletten von ihrem Strahlenkleid verloren. Ein Junimorgen, der einen warmen Sommertag verspricht. Jetzt müsste man sich ins Auto setzen und losfahren. Der Sonne entgegen, der Nase nach. Anhalten, wo es schön ist. Bleiben, wo man sich wohl fühlt. Beim Gedanken daran schlägt mein Herz unwillkürlich schneller. Dabei liebe ich unser Haus in Bienenholz, einem Dorf mitten in der niedersächsischen Provinz. Es ist ruhig hier, die Luft ist sauber, und die Menschen kennen einander. Hier wird nicht geklaut, und am Samstag werden die Bürgersteige gefegt und der Rasen gemäht.
     
    Während ich am Fenster stehe, unterbricht nur ab und an ein vorbeifahrendes Auto die morgendliche Stille. Es sind meistens Nachbarn, die zur Arbeit fahren oder ihre Kinder zur Schule bringen. Eine Amsel verlässt ihren Aussichtsplatz auf dem Gartenzaun und fliegt in mein Erdbeerbeet, wo sie einen Regenwurm unter einer Pflanze hervorzieht. Kurz überlege ich hinauszugehen, aus den Schuhen zu schlüpfen und mit nackten Füßen über den Rasen zu laufen. Vielleicht könnte ich auch schon eine der Erdbeeren pflücken? Aber ein Blick auf die Uhr beendet diese Anwandlung. Wenn ich Benny jetzt nicht wecke, kommt er wieder zu spät zur Berufsschule. Also schalte ich die Kaffeemaschine ein und steige die Treppe ins Obergeschoss hinauf.
    Benny ist siebzehn Jahre alt. Bei ihm fällt Wecken vor 14  Uhr unter Verletzung der Menschenrechte. »Lass mich in Ruhe!«, brüllt er, wenn ich ihn wachrüttle. Die Forschung hat mittlerweile herausgefunden, dass es im Körper von Teenagern ein Hormon gibt, das diese abends nicht einschlafen lässt – also können sie morgens nicht zeitig aufstehen.
    Nick hatte aber trotz dieser wissenschaftlichen Erkenntnis nach der x-ten Wiederholung des morgendlichen Dramas »Benny schafft es nicht, aufzustehen« kein Verständnis mehr für die Schlafbedürfnisse unseres Sohnes. Er, der sonst eher Nachdenkliche und Ruhige, ist vor wenigen Wochen geradezu explodiert. »Du kannst ja mal bei Amnesty International anrufen, vielleicht helfen die dir!«, hat er unserem Sohn empfohlen und ihm dann einen nassen Waschlappen übers Gesicht gezogen. Danach habe ich Nick versprechen müssen, dass von nun an ausschließlich ich mich um Bennys Aufstehen kümmere. Weil er, Nick, sich zu sehr aufregt. Als ob mich es kaltlassen würde, wenn sich Benny so benimmt. Im Gegenteil: Es tut sehr weh. Ich vermisse das Kind, das Benny war.
    Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass ich mit gemischten Gefühlen vor Bennys Tür stehe. Auf das Holz geklebte Totenkopf-Embleme und Verbotsschilder machen deutlich, dass Besucher jenseits der zwanzig unerwünscht sind.
    »Benny?« Ich klopfe an die Tür.
    Nichts.
    »Benny, aufstehen!«
    Nichts.
    Ich klopfe noch einmal und öffne die Tür: »Benedikt!«
    Sein Bett ist leer. Unberührt würde ich nicht sagen, denn Benny macht nie sein Bett – aus Protest gegen die Vorstellungen seiner rückständigen Mutter.
    Ich bekomme einen großen Schreck. Dass Benny spät nach Hause kommt, ist ein klassisches Streitthema zwischen uns. Aber wenn er woanders übernachtet, ruft er immer an.
    Ich stürze ins Schlafzimmer und rüttle Nick. »Benny ist nicht nach Hause
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