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Schwarze Stunde

Schwarze Stunde

Titel: Schwarze Stunde
Autoren: Christine Feher
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Frau Bollmann hat er sich nicht geäußert; vielleicht ist da doch mehr, und jetzt greift er mich an, um es zu vertuschen.
    Meinen Cocktail habe ich leer getrunken. Es gibt keinen Grund mehr zu bleiben. Also krame ich in meiner Tasche nach der Geldbörse und stehe vorsorglich auf, um schnell gehen zu können, sobald ich bezahlt habe.
    »Lass mal.« Corvin winkt ab. »Ich lade dich ein.«
    »Das musst du nicht«, entgegne ich. »Schon gar nicht nach diesem Abend. Und weißt du was: Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich gar nicht erst mit nach England fahre. Mir reicht es einfach. Ich kann nicht mehr. Ich werde mich krankmelden oder für die paar Tage weiter in die Schule gehen. Auf die Art sehen wir uns eine Weile nicht, und wenn ihr wieder da seid, sind wir nur noch Schülerin und Lehrer, ohne irgendwelche Hintergedanken. So wird es das Beste sein.«
    »Nein.« Auf einmal sieht Corvin ganz erschrocken aus, seine geweiteten Augen tasten mein Gesicht ab wie zarte Fühler. Er greift nach meinem Arm, zieht mich wieder herunter auf meinen Sitzplatz, »Ich habe keine Hintergedanken, Valerie. Ich will, dass du mitkommst. Ich könnte es nicht ertragen, die ganze Woche lang jeden Tag die anderen zu sehen, vom Morgen bis zum Abend, ohne dass du dabei bist.« Er schließt seine Arme um mich, zieht mich und drückt mich fest an sich. »Bitte komm mit, unbedingt, ja?«
    Der Klumpen in meinem Magen löst sich, ich fühle, wie ich weich werde, ich erwidere seine Umarmung und genieße es, als seine Lippen plötzlich meinen Hals entlang wandern. Wenig später sind wir in einen tiefen Kuss versunken. Nur ganz kurz hebe ich meine Wimpern, um beruhigt festzustellen, dass sich außer uns noch immer niemand in diesem Raum befindet. Selbst die beiden Frauen haben sich verzogen, und wir sitzen so, dass man uns vom Eingang aus nicht sofort sehen kann. Eine gewisse Gefahr besteht immer, aber in diesem Moment blenden wir alles aus, jedes Risiko, jede Angst, jedes Gesetz. Frei sein, einfach mal etwas Verrücktes tun. Corvin und ich, nur Corvin und ich, endlich wieder. In diesen Minuten gibt es nur uns beide, wir tanken uns aneinander auf, klammern uns aneinander, flüstern uns Liebesschwüre und Mut zu, nur diese paar Minuten gehören uns, wir haben sie so nötig, um durchhalten zu können.
    »Bitte, Valerie, komm mit«, flüstert er so dicht an meinem Ohr, dass mich sein Atem kitzelt. »Ich weiß absolut nicht, wie alles weitergehen soll, aber ohne dich halte ich es in England nicht aus.«
    »Ich doch auch nicht ohne dich«, flüstere ich zurück. »Natürlich komme ich mit.«
    Wenig später zahlt er und will mich nach Hause fahren, mich wie immer einige Straßenecken vorher absetzen.
    »Lass das lieber«, lehne ich ab. »Ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich nehme die Öffentlichen.«
    Das letzte Stück bis zu unserem Haus renne ich, es ist doch später geworden, als ich dachte, und obwohl ich meinen Eltern keine Rechenschaft mehr ablegen muss, seit ich volljährig bin, weiß ich, dass meine Mutter erst ruhig schläft, wenn sie mich sicher zu Hause weiß. Noch ganz außer Atem sperre ich die Haustür auf und schalte das Licht im Treppenhaus ein, durch Zufall fällt mein Blick auf die Hausbriefkästen und wandert gewohnheitsmäßig zu unserem. Dabei stutze ich, ein großer Post-it klebt daran, mit meinem Namen darauf. Ich fühle alles Blut aus meinem Körper in die Füße sacken, spähe durch den Briefschlitz, kann jedoch nichts entdecken außer irgendetwas Hellem, das ich nicht deuten kann. Alles in mir wehrt sich dagegen, aber ich greife doch nach dem Briefkastenschlüssel an meinem Bund, das ich noch in der Hand halte, und schließe auf. Das Licht geht aus und ich muss es wieder einschalten. Im Briefkasten sind lauter Scherben aus Gips, eine davon nehme ich heraus und erkenne den vorderen Teil einer Nase, finde einen zerbrochenen Mund, ein halbes Ohr. Teile eines Kopfes, die ich jetzt in Panik heraushole und hastig in meine Tasche stopfe, morgen muss ich sie gleich irgendwo draußen entsorgen, nur jetzt müssen sie hier raus. Als ich alle Teile aus dem Kasten entfernt habe, finde ich auf seinem Boden eine Karte, blanko weiß, dieses Mal mit Schablonenschrift beschrieben.
    Das wird dein Kopf sein, Valerie Glimm. Du lässt immer noch nicht die Finger von ihm.

24.

    W ieso fliegen wir eigentlich nicht?«, fragt Manuel, als wir wenige Tage später im Bus zur Fähre nach England sitzen. Mehr als acht Stunden sind wir schon unterwegs, und
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