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Im Blutkreis - Roman

Im Blutkreis - Roman

Titel: Im Blutkreis - Roman
Autoren: Limes
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Prolog
    »Clémence …«
    Die Nacht. Geflüster, erstickte Schreie, in die sich Weinen mischt, sind zu hören und dringen bis in Juliens Zimmer.
    »Clémence, meine Prinzessin …«
    Julien rollt sich zusammen, schiebt seinen Kopf unter das Kissen. Es ist Mama … Sie fängt schon wieder an…
    Papa redet sanft auf sie ein: »Clémence ist gegangen, mein Liebling. Sie wird nicht mehr wiederkommen.«
    »Ich spüre ihre Gegenwart… sie ist hier, draußen…«
    Das Jammern dringt durch den dünnen Schild aus Federn in Juliens Bewusstsein. Die Unruhe erstickt ihn. Er murmelt: »Der Tiger … Mama … ich bitte dich … Er wird uns hören. Er wird uns wiederfinden …«
    Eine Welle von Schluchzern übermannt ihn.
    Stille.
    »Clémence? Komm … ich bin da, mein Herz …«
    »Verdammt, Isabelle. Deine Tochter ist TOT!«
    »NEEEIIIN… DAS IST NICHT WAHR… DU LÜGST, MISTKERL…«
    »Hör auf. Du tust dir nur weh. Du tust uns weh. Komm, komm in meine Arme …«
    »RÜHR MICH NICHT AN!«
    »Das reicht! Du wirst den Kleinen aufwecken …«
    Julien erträgt die Dunkelheit nicht mehr. Er verlässt sein Zimmer und geht in den Flur.
    Die Zweige knacken vor dem Fenster.
    Das Tier schleicht um das Haus. Es ist ganz nah. Er weiß, dass es zurückgekommen ist.

    Das Entsetzen presst seinen Schädel zusammen. Er spürt den heißen Atem auf seinem Nacken, leise Schritte gleiten durch den Schatten.
    »Er kommt zurück, Mama. Er wird uns alle töten… Beschütze uns … beschütze mich … ich habe Angst …«
     
    Unten an der Treppe schwanken die Schatten auf der Mauer. Papa hält Mamas Arme fest. Sie wehrt sich, weint, fleht ihn an: »HÖR… HÖR DOCH! SIE IST DA… DRAUSSEN, HÖRST DU SIE DENN NICHT?«
    »Das ist der Wind. Es ist heute Abend sehr windig …«
    »DU WILLST, DASS ICH SIE GANZ ALLEIN IN DER KÄLTE, IN DER DUNKELHEIT LASSE… DRECKSKERL, DRECKSKERL, DRECKSKERL…«
    Julien geht die Stufen, die ins Wohnzimmer führen, hinunter. Mama befreit sich. Sie läuft zur Gartentür, drückt den Türgriff.
    »ISABELLE, NEIN! Du wirst wieder das ganze Viertel wecken.«
    Papa ist wütend.
    Julien will schreien. Seine Mutter rufen, sie warnen. Aber nur ein Röcheln kommt aus seiner Kehle. Sie dreht sich zu ihm um, sieht ihn an. Ihre Augen sind traurig, wie verschleiert vor Müdigkeit.
    Die Tür wird durch eine plötzliche Druckwelle geöffnet. Die Fensterscheiben zerbersten. Ein Schuss knallt und trifft Mamas Hals – eine Garbe von Fleischfetzen und Knochensplittern. Sie streckt die Hand aus, um sich am Vorhang festzuklammern, dann fällt sie zu Boden. Ihr ganzer Körper zuckt. Ihr braunes Haar vermischt sich mit dem roten Schaum, der aus ihrem Mund quillt.
    Papa läuft zu Julien, der flieht.
    Er packt ihn, taumelt.
    Ein zweiter Schuss reißt ihm den Schädel weg. Er bricht zusammen. Nur sein Gesicht ist noch da, bleich wie Wachs.

    Julien sitzt auf dem Boden, die Knöchel zwischen den verkrampften Händen seines Vaters. Er starrt durch die geöffnete Tür in die Finsternis.
    Er spürt die Gegenwart.
    Das Keuchen wird lauter, der Klang der Schritte hallt in seinem Bewusstsein wider.
     
    In dieser Dezembernacht ist der Tiger zurückgekommen.

I

1
    Hammerfest, Norwegen
6. März 2002
     
    Grelles Licht stach in seine Augen. Ein Schatten, der die Form eines Gesichts hatte, beugte sich über ihn. Körperlose menschliche Stimmen verloren sich in den Gängen seines erwachenden Bewusstseins. Sie zerplatzten in tausend Kristallsplitter, die in seinem Schädel umhersprangen und dann zu einem leisen Murmeln wurden.
    Er schloss die Augen wieder.
    »Nathan, hören Sie mich?«
    Licht drang unter seine Lider, breitete sich aus und verzweigte sich in seine Adern. Er wollte schreien, aber eine unsichtbare Hand presste seine Lungen zusammen. Erneut verlor er das Bewusstsein.
    »Nathan, bitte, bleiben Sie bei uns … Sauerstoff!«
    Der Schmerz ließ ihn zurückkehren. Das Reiben der Laken auf seiner Haut brannte wie Gift. Sein Herz raste. Immer wenn er die Lider einen Spalt öffnete, zerfetzten Krallen aus weißem Licht ihm die Augen. Er sah nichts als verbrannte Bilder. Er versuchte, den Kopf zu drehen, zwei schwielige Hände legten sich auf seine Kiefer…
    »Bewegen Sie sich nicht, bleiben Sie ruhig, Sie sind schwer verletzt…«
    Er war ein Klumpen reinen Schmerzes. Die Unruhe blähte seine Lungen. Er begann, seine Glieder, seinen Nacken wahrzunehmen. Dann bäumte sich sein Körper auf wie eine Klinge, kurz bevor sie bricht,
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