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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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nicht festhalten, das Garn haspelt und haspelt von allein, singt mit meiner Stimme, singt schneller, als ich schreiben könnte. Ich habe Angst vor meiner Geschichte, Angst, dass es meine Sandburgen, Zeitlupen und den Kugelhagel gar nicht gibt. Dass ich alles nur erfunden habe. Oder schlimmer, dass es sie gibt und ich in ihnen zerfetzt werde.
    Unten saugt einer Staub. Jemand schlägt die Haustür zu. Kommt oder geht.
    Mein Finger sucht eine Fernbedienung, einen Knopf, ein Jazzstück flutet ins Zimmer. Plötzlich sind Sandburg und Kugelhagel und Zeitlupe das Wirklichste der Welt. Von Zerfetztwerden kann keine Rede mehr sein, die Musik hält mich zusammen.
    Als ich wieder aufwache, ist es sehr leise. Der Jazz ist verstummt. Alle haben das Haus verlassen. Alle sind unterwegs. Alle außer Borg. Ich höre versonnenes Summen und Schritte, das Auswaschen eines Eimers, Borgs Verschwinden im Keller. Vielleicht ist auch Lutz zu Hause, aber aus Lutz’ Zimmer hört man ohnehin nie was.
    Ich kann das Silikon riechen, das Borg unten in die Fugen schmiert. Er renoviert die Kellerwohnung. Er sagt, der erste Stock befriedige ihn nicht mehr. Er müsse wieder in die Grundfesten seines Hauses ziehen, sagt er. Ich verstehe das nicht, weil ich selbst am liebsten auf windigen Terrassen, in Türmen und in Dächern wohne, aber ich höre Borg gern über sein Haus reden.
    Ich lebe seit knapp drei Jahren hier. Ich wollte mitten in der Stadt sein, wie das viele wollen, und mit zwei Koffern, vier Kartons und wenig Geld zog ich ein. Als ich Borg bereits nach der zweiten Monatsmiete gestehen musste, pleite zu sein, verfinsterte sich seine Miene, aber er sagte nichts. Ich schlief die ganze Nacht nicht, zerbrach mir den Kopf, wie ich bezahlen oder wohin ich gehen könnte. Die Eltern kamen nicht in Frage, und zurück zur Großmutter wollte ich nicht. Am nächsten Tag drückte Borg mir ein grünes Stofftier in die Hand. Damit solle ich heute Nacht in die Lotusbar gehen und es dem blonden Türsteher geben, der dort von null bis sechs Uhr arbeite. Vom Türsteher erhielt ich einen kunstvoll gefalteten Vogel aus Seidenpapier. Er war ungewöhnlich schwer für eine Seidenpapierfigur, aber ich lieferte ihn kommentarlos bei Borg ab. Wenige Tage später wiederholte sich das Spiel, ich brachte ein grünes Plüschbündel in eine andere Bar. Diesmal wurde mir im Tausch eine Packung Damenstrümpfe ausgehändigt. Ich widerstand der Versuchung, sie auf der Toilette zu öffnen, ihren Inhalt genauer in Augenschein zu nehmen. Gelbe und blaue Stofftiere folgten. Das Thema Miete kam nie wieder auf.
    Borg wohnte unten. Ich ganz oben. Der Rest des Hauses stand leer. Es war ein stilles Haus, still wie heute Nacht. Erst nach drei Monaten füllten sich langsam die Zimmer. Borg strich jeden Raum neu, jeden in einer anderen Farbe, und immer wenn ein Zimmer fertig war, zog jemand ein. Jetzt sind wir fünf.
    Irgendwann höre ich Borgs Schritte auf den Treppen zu meinem Stockwerk. Als es klopft, erschrecke ich trotzdem. Ein neues Stofftier, vielleicht. Durch die angelehnte Tür hindurch will er wissen, ob ich schon schlafe. Ob ich runterkommen wolle. Weil die Prinzessin in mir gelangweilt mit den Fingerknöcheln knackt, sage ich ja. Moment. Borgs Schritte sind schon wieder auf dem Weg nach unten. Bis gleich. Ich stehe langsam auf.
    Ich verkorke die Weinflasche und nehme sie mit. Im Wohnzimmer brennen lange Kerzen. Ich angle eine gebrauchte Tasse vom Tisch. Ich rauche eigentlich nicht, trotzdem hält mir Borg eine seiner Selbstgedrehten hin. Er kennt mich gut genug. Borg macht die Tür zum Garten auf. Wir sitzen auf einer Wolldecke.
    »Töte einen Seemann«, sagt Borg und hält mir eine Kerze hin.
    Ich mag das leise Knistern beim Anziehen des Rauchs und die Formen, die er beim Ausatmen annimmt, je nach Umgebung. Den Geschmack mag ich nicht, die Wirkung aber ist angenehm. Wir schweigen.
    Mein Blick hängt zwischen der Veranda, die noch etwas Licht von den Kerzen auffängt, und dem Hinterhofgarten, der völlig dunkel ist. An Borgs Händen klebt noch Silikon. Borg bearbeitet die häuslichen Baustellen mit einer Ausdauer, die an Besessenheit grenzt. Er widmet sich diesem Haus, als ginge es um die Rettung seiner Seele. Er hat dem Haus sogar einen Namen gegeben: Goldlaube. Es gibt tatsächlich Leute in der Stadt, die wissen, was die Goldlaube ist. Borg atmet einen großen Rauchschleier aus und lächelt mich an. Die Musik und sein Haus halten den großen Jungen am Leben. Er sieht müde
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