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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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ist.
    Für Sekunden, die keine Zeit mehr sind, stehe ich in der Dunkelheit meiner Ohnmacht und lausche.
    Dann kommt die Welt zurück. Meine Beine kribbeln, durch meine Hände spukt ein ziehender Schmerz. Mein Denken stürzt sich sofort auf die Erinnerung an den Moment der Ohnmacht, den mein Bewusstsein wie ein Diktiergerät aufgezeichnet hat. Aber mehr als Stille gibt es dort nicht zu erinnern.
    Ich erschrecke, weil ich ein paar Augenblicke lang nicht sprechen kann. Als meine Stimme zurückkehrt, weine ich.
    Ich bin nur ein Hauch. Eine Frau, die ich nicht kenne und die mich vor dem Konzert mit Puder betupft hat, nimmt mich in den Arm. In meinen Ohren rauscht es. Es tut gut, das eigene Blut zu hören. Selbst wenn es nicht mir gehört. Auch meine Stimme gehört mir nicht. Ich bin nur ein Notizblock für die Götter, sie benutzen mich, kritzeln mich voll mit ihren Ideen. Irgendwann werfen sie mich weg.

Tinte
    Meine Fingerkuppe taucht tiefer in den blauen Saft. Ich fühle mich betrunken. Der vergangene Abend hat eine blecherne Stimmung hinterlassen. Als ich meinen Finger aus dem Tintenfass ziehe, fallen ein paar Tropfen auf ein Blatt Papier. Blut tropft genauso, aber heiß und rot und heftig. Tinte wird beim Trocknen heller, Blut dunkler. Ich sollte mir nächstens Tinte ins Badewasser kippen, wie Milch oder Champagner, denke ich weiter. Gewitterblaue Wolken im heißen Wasser, denke ich.
    Moritz hing sehr an mir. Mit einem Glassplitter ritzte er den Anfangsbuchstaben meines Namens in seinen Handrücken und schüttete Tinte darüber. Wir waren vor wenigen Wochen sieben geworden, mein Zwillingsbruder und ich. Mit verzerrtem Gesicht rieb er das Blau in seine Haut. Schließlich behauptete er, das werde jetzt für immer sichtbar sein, wie eine Tätowierung. Apfelblüten regneten auf uns herab. Er streckte mir stolz seine Hand hin, damit ich den Buchstaben ansehen könnte. Ein dunkler Tropfen fiel von seiner Hand auf meine. Als ich an der Reihe war, seinen Buchstaben in meine Hand zu ritzen, lief ich weg.
    Mein Bruder blieb mit blutender Hand und fleckiger Hose unter dem Apfelbaum sitzen und spuckte auf die Erde. Über ihm setzte sich eine Elster in den Baum und verdrehte den Kopf. Ich lief nach Hause. Die Elster flog mir hinterher.
    Meine Mutter packte einen Beutel Brombeeren aus dem Tiefkühlfach und bat mich, ihr zu helfen, die Beerenbrocken zu zerbrechen und auf einen Tortenboden zu verteilen. Ich war froh, dass sie nicht sofort nach Moritz fragte. Als die tauenden Beeren meine Finger blau, violett und rot färbten, musste ich wieder an Blut und Tinte denken. Das war unheimlich und schön. Ich machte weiter und weiter, bis keine Beeren mehr da waren.
    Mein Bruder und ich spielten damals jeden Tag miteinander. Meistens erzählten wir uns Geschichten, und wie selbstverständlich spielten wir selbst eine Rolle darin. Die Geschichten begannen immer im Konjunktiv.
    Ich wäre ein Ballonfahrer. Ich würde eines Tages bemerken, dass auf den Wolken jemand wohnt. Ich wäre eine Fee. Aber ich wäre sehr launisch. Ich wäre ein Fischer. Ich hätte eine Flaschenpost gefunden. Ich wäre die Tochter des Königs. Und du ein Pferdedieb.
    So, täglich und endlos, spannen wir unsere Geschichten. Aus jedem Anfang entwickelte sich ein Spiel. Wir waren leidenschaftliche Spieler. Kaum eines unserer Spiele mündete nicht in eine heimliche Liebe zwischen den beiden Protagonisten. Kaum eines unserer Spiele endete nicht mit unser beider Tod. Das Spiel nahm uns gefangen, und bis unsere beiden Helden nicht zugrunde gerichtet waren, hatten wir keine Ruhe. Es gab nichts Schöneres als den gespielten Tod in einer taufeuchten Wiese neben dem Bach. Nur daliegen, dem Flüstern des Wassers zuhören, den müden Bienen bei ihrem Abendflug, auf den Atem des anderen lauschen und wünschen, dass seine Hand ewig da liegen bliebe, wo sie war.
    Die Begeisterung dieser Spiele hat mich nie verlassen. Jetzt, Jahre später, fühle ich dieselbe hochfliegende Unruhe, wenn ich verliebt bin, wenn ich Musik höre, wenn ich auf der Bühne stehe. Ich blühe in dieser Stimmung, es ist meine Stimmung. Ich habe nie zu spielen aufgehört.
    Ich male die zwei Buchstaben mit dem blaugetunkten Finger, starre vor mich hin. Ein Sonnenstrahl fällt auf das Papier und lässt die Tinte seltsam metallisch aussehen. Auf meinem Arm sind noch Narben von dem Tag, als Moritz’ Hand tatsächlich liegen blieb. Im schwarzen Staub, zwischen verkohlten Trümmern, sein lang erträumter Tod. Als ich
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