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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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zum ersten Mal nicht mitsterben durfte. Als die Götter zum ersten Mal lachten. Mir wird schwindlig. Ich verwische die Tintenbuchstaben, verreibe das Blau zwischen den Fingern. Durchs Fenster kann ich beobachten, wie es Abend wird. Der Horizont ist aus purpurnem Fruchtfleisch. Eine saftige Juninacht tropft in die Straßen. Das Licht ist mild und langsam wie Honig.
    Im unteren Stockwerk dröhnt die Stereoanlage los. Sie wird rasch ein paar Stufen zurückgedreht. Die Musik bleibt trotzdem laut, ein untergründiges Basswummern dringt zu mir herauf, und immer wieder perlige Tonfolgen, unterbrochen von einem fetten, elektrischen Brummen. Ein Stück, das ich noch nicht kenne. Die Tinte in ein altes Hemd wischend, gehe ich die Treppen hinunter. Die Musik wird klarer, eine ausgehöhlte Frauenstimme zitiert kryptische Satzfetzen. Erst nach drei, vier Satzfragmenten bemerke ich, dass es meine Stimme ist. Ich erkenne den Text. Borg ließ mich die Zeilen vor Wochen ins Mikro lesen. Er muss das Stück letzte Nacht fertig abgemischt haben. Ich gehe ein paar Stufen tiefer und lausche weiter. Auf dem Treppenabsatz bleibe ich stehen und kauere mich ans Geländer.
    In der Küche steht ein großer Junge am Herd, sein breiter Rücken wippt ein wenig, wenn er etwas in die Pfanne schnipselt. Der Duft von Reis steigt in meine Nase. Wenn ich könnte, würde ich hingehen und dem Kerl über die Schulter sehen. Aber Borg ist anderthalb Köpfe größer als ich, nicht einmal auf Zehenspitzen würde ich mein Kinn auf seine Schulter bekommen. Deshalb bleibe ich sitzen und warte, bis er mich bemerkt.
    Borg arbeitet im Musikgeschäft, betreibt ein Tonstudio, und versorgt mich regelmäßig mit allem, was eine Musiksüchtige sich wünschen kann. Er ist älter als ich, Mitte dreißig, aber er wirkt, vor allem wenn er lächelt, wie ein Schuljunge. Außerdem kann er gut kochen. Ich, aus eigenem Entschluss und Faulheit eine Niete in der Küche, bediene mich nur allzu gern von seinem Essen.
    »Magst du es?«, fragt Borg mit einer Geste zur Stereoanlage.
    »Lieber das da«, sage ich mit einem Blick in die Pfanne.
    »Parasit«, murmelt er lachend.
    Wir gehen hoch auf die Dachterrasse. Die Luft ist kühl. Borg schiebt ein Kissen unter meinen Hintern. Der Dampf von Reis, Gemüse und verschiedenen Pilzen kringelt sich in den Himmel. Ich esse sehr langsam. Eigentlich esse ich gar nicht, ich nasche. Alles, was ich esse, nasche ich.
    Borg schläft nicht mehr mit Frauen. Aber weil ich keine Frau, sagt Borg, sondern ein Mädchen sei, könne er bei mir eine Ausnahme machen. Wenn ich wolle. Du könntest alles sein, sagt Borg immer. Also könnte ich auch für Borg mein Haar wegstecken, Löcher in meine Jeans schneiden und missmutig den Mund verziehen. Den jungen Rotzlöffel spielen. Und es würde ihm gefallen. Ich bilde mir nichts darauf ein. In diesem Haus wird niemand erwachsen. Als ich fertig bin, lecke ich die Stäbchen sorgfältig ab und stecke sie ins Haar.
    Hinter mir schimmert ein dunkelgrüner Abend, die Dächer der Stadt, ein paar Türme wie im Scherenschnitt. Kleine Wolkenfetzen, von unten orangefarben beschienen, fleddern unwirklich über den Himmel. Es ist ein chinesisches Märchen, und ich kenne meine Rolle darin nicht. Vielleicht stehle ich die Qin des Kaisers. Werde verfolgt und gefangen. Aber weil ich zaubern kann, verwandle ich alles und am Schluss mich selbst. Dann ist Ende.
    »Schmeckt’s, Prinzessin?«
    Noch als ich überlege, ob ich Borgs Kochkunst lieber mag als die Tatsache, dass er mich Prinzessin nennt, oder vielleicht seinen vertrauten Duschgelgeruch, deutet Borg zum Himmel. Eine weiße Maschine fliegt zum Flughafen hin absinkend in eine Wolke hinein, verschwindet und taucht unten wieder ins Freie. Ich mag es, in einer Stadt zu wohnen, die so groß ist, dass der Himmel ständig voller Flugzeuge hängt. Borg peilt die Richtung an, aus der die Maschine kommt, sieht auf die Uhr.
    »Wahrscheinlich Amsterdam«, sagt er.
    Ich frage ihn, ob er schon in Amsterdam war. Er verneint. London aber.
    Ich strecke mich aus und lehne mich ans Geländer der Terrasse. In einiger Entfernung glitzern ein paar Hochhäuser mit bestechender Unschuld. Sie tun so, als hätten sie nichts verbrochen. Ich tue dasselbe. Dass ich mir immer wieder vorstelle, wie sie einstürzen, ist eine alte Fantasie. Bis ich zwölf war, hatte ich die Berge nicht gesehen, und so waren Wolkenkratzer das Höchste und Freistehendste, was ich mir vorstellen konnte. Ihren Einsturz, zu allen
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