Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
Vom Netzwerk:
Seiten berstende Spiegelscheiben, stellte ich mir atemberaubend vor. Als würde ein Teil der Welt einfach zerspringen. Als hätte ich mir das immer gewünscht. Später, als ich Videos von einstürzenden Wolkenkratzern sah, waren mir die Bilder auf eine unheimliche Weise vertraut. Ich konnte sie mir sehnsüchtig immer und immer wieder ansehen. Natürlich habe ich das nie jemandem gesagt. Außer Moritz, dem hätte ich es erzählt. Wenn er noch da gewesen wäre.
    Borg summt eine einfache Melodie. Ich nestle an den Stäbchen in meinem Haar und höre ihm zu. Als ich eine zweite Stimme dazusummen möchte, hört er plötzlich auf. Ich frage ihn, ob er schon einmal eine Qin gespielt habe. Wieder verneint er.
    Die Dämmerung nimmt ein tiefes Violett an. Meine Geschichte, denke ich, spielt in einem Land, wo Dämmerungen genauso lang wie Tag und Nacht dauern. Der Himmel dieser Geschichte ist rosa und ihr Horizont schwarz. Nach Zwielicht riecht sie, nach dem Moos auf Stadtdächern, nach Mandelseife und ein wenig nach Benzin. Nach den Stahlsaiten meiner Gitarren und nach Männerhemd. Was sie zusammenhält, ist letztlich nur ein Fädchen, das durch die Hände einer numinosen Spinnerin läuft. Wahrscheinlich hat sie blaue Finger wie ich, Sudelpfoten, und schmiert meinen Faden schon beim Spinnen voll. Die Götter sitzen in der Tinte.

Wachs
    Einer jener Tage, an denen der Boden unter den Füßen nichts Festes ist. Einer der Tage, an denen jede Stunde ein ungeheuer langsames Erdbeben ist, so dass die Welt in Scherben geht, ohne den geringsten Lärm zu machen. Einer der Tage, an denen ich fürchte, meine Körperteile einfach irgendwo zu verlieren. Tage, die wie trockene Sandburgen im Wind stehen. An solchen Tagen hat nichts Bestand, nichts Geschmack, nichts Bedeutung.
    Alles verwirrt mich, diese Auflösung, diese endlose Egalheit. Dreimal ziehe ich mich um, aber kein Kleidungsstück gehört zu mir. Schließlich entscheide ich mich für das Unauffälligste. Ich treffe die Leute im Haus, bin aber schweigsam. Ich gehe an verschiedene Orte, erledige Unaufschiebbares, einen neuen Personalausweis beantragen, eine Singleauskoppelung mit dem Label besprechen, aber nichts erscheint wichtig. Ich muss mich konzentrieren, passende Antworten zur richtigen Zeit zu geben.
    Am besten wird es sein, wenn ich mich mit einer Sonnenbrille in den Park setze und zuschaue, wie die Welt zusammenbricht. Verhindern kann ich es ja doch nicht. Wie das Licht und die Menschen überall herumwandern und verschwinden. Es ist, als würde ich krank, bekäme hohes Fieber. Die Stadt ist nur noch ein Meer aus Zeug, das sich bewegt. Sie schiebt Wellen vor sich her, Wanderdünen aus Bordsteinen, Mänteln, Frisuren, Hausecken und im Wind fliegendem Müll. Ich wäre nicht verwundert, wenn plötzlich Kugelhagel losbräche, ganz lautlos, Stummfilmkugelhagel, der alles zerschlägt. Ich würde keinen Schmerz und keinen Schreck empfinden, nur mit großen Augen zusehen, wie alles in pervers langsamer Zeitlupe zu Boden ginge.
    Ob die sanfte Zerstörung solcher Tage ein Trick meines Kopfes ist, ob die Saumseligkeit meiner Gedanken eine Stilllegung ist, die mich am Ende vorm Zusammenbruch bewahrt, weiß ich nicht. Ich ziehe es jedenfalls vor, an solchen Tagen mit niemandem zu sprechen und mich gegen fremde Blicke so weit wie möglich abzuschotten. Die dunkle Sonnenbrille, ein Tuch übers Haar, eine langärmelige Bluse.
    Der Gedanke, etwas über Tage wie diesen aufzuschreiben, damit ihre Formlosigkeit greifbar würde, ließ mich Worte suchen. Das Aufschreiben gelang mir nicht, wie immer, also habe ich mir eine Flasche Wein ins Zimmer geholt. Man sollte sich nichts aus den Fingern saugen. Ich lege mich ins Bett, schließe die Augen.
    Hätte ich nur eine eigene Geschichte, denke ich, wie ich meine eigene Musik habe. Selten schreibe ich eine Seite auf. Früher hatte ich Tagebücher. Die habe ich nie mehr durchgelesen seitdem. Weil diese Geschichten tote Häute sind, in denen ich nicht mehr leben kann. Schon damals nicht leben konnte. Jetzt abgestreift. Ich erzähle mir meine Geschichte nur noch im Kopf. So dass sie verfliegen kann wie Musik.
    Unten klirrt ein Teller auf den Boden. Hier oben kriecht ein kleiner Rausch in mein Blut. Ich drücke meine Schultern tief ins Kissen. Neben mir brennt eine rote Funzel, und der Wein glitzert unwirklich in seinem Glas. So wiege ich mich in die Nacht.
    Meine Geschichte ist ein Faden, denke ich, der mir tanzend durch die Hände läuft. Ich kann sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher