Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz
Autoren: Laurence Rees
Vom Netzwerk:
Einführung
    Es steht viel Verstörendes in diesem Buch; trotzdem meine ich, daß die Arbeit notwendig war. Nicht nur, weil Umfragen 1 gezeigt haben, daß im allgemeinen Bewußtsein noch Verwirrung über die Geschichte von Auschwitz herrscht, sondern auch weil ich hoffe, daß dieses Buch etwas Spezifisches beiträgt.
    Es ist das Resultat von 15 Jahren der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in Fernsehsendungen und Büchern, und es ist ein Versuch zu zeigen, daß man eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte am besten versteht, wenn man es durch das Prisma eines Ortes betrachtet: Auschwitz. Für Auschwitz gibt es, anders als für den Antisemitismus, ein ganz bestimmtes Anfangsdatum (die ersten polnischen Gefangenen kamen am 14. Juni 1940 hierher), und ebenso gibt es, anders als für die Geschichte des Völkermords, ein genau definiertes Ende (das Lager wurde am 27. Januar 1945 befreit). Zwischen diesen zwei Daten erlebte Auschwitz eine komplexe und befremdliche Geschichte, die in vielerlei Hinsicht die Undurchschaubarkeit der Rassen- und Volkspolitik der Nationalsozialisten spiegelte. Auschwitz war nicht als ein Lager geplant, in dem Juden vernichtet werden sollten, es war ja auch nicht nur mit der »Endlösung« befaßt – obwohl die zum beherrschenden Merkmal wurde –, und es veränderte sich ständig, oft als Reaktion auf das wechselnde Kriegsglück der Deutschen anderswo. Auschwitz war mit seiner destruktiven Dynamik die Verkörperung der Grundwerte des NS-Staates.
    Die Beschäftigung mit Auschwitz bietet uns noch etwas anderes als Einsichten in den Nationalsozialismus; sie gibt uns die Möglichkeit zu verstehen, wie Menschen sich unter extremsten Bedingungen verhalten haben. Aus dieser Geschichte erfahren wir viel über uns selbst.
    Dieses Buch beruht auf ungewöhnlichen Forschungen – etwa einhundert hierfür geführten Interviews mit ehemaligen NS-Tätern und mit Überlebenden des Lagers –, und stützt sich darüber hinaus auf Hunderte von weiteren Gesprächen aus meiner früheren Arbeit über das »Dritte Reich«, darunter mit vielen ehemaligen Mitgliedern der NSDAP. 2 Wenn man Überlebende und Täter persönlich trifft und mit ihnen sprechen kann, ist das von größtem Vorteil. Es bietet Möglichkeiten zu einem Niveau an Einsichten, die sich kaum aus geschriebenen Quellen allein erschließen würden. Ich bin eigentlich seit meiner Schulzeit an dieser historischen Epoche interessiert, aber den tiefsten Eindruck, den ich vom »Dritten Reich« bekam, kann ich an einem ganz bestimmten Gespräch mit einem früheren Mitglied der NSDAP im Jahr 1990 festmachen. Ich arbeitete an einem Film über Joseph Goebbels und sprach deshalb mit Wilfred von Oven, der eng mit dem berüchtigten Reichspropagandaminister zusammengearbeitet hatte. Als wir nach dem eigentlichen Interview noch bei einer Tasse Tee zusammensaßen, fragte ich diesen intelligenten und charmanten Menschen: »Wenn Sie Ihre Erfahrungen aus dem ›Dritten Reich‹ in einem einzigen Wort zusammenfassen könnten, wie würde das lauten?« Während Herr von Oven einen Augenblick über die Frage nachdachte, vermutete ich, daß sich seine Antwort auf die schrecklichen Verbrechen des Regimes beziehen würde – Verbrechen, die er offen zugegeben hatte – und auf das Elend, das der Nationalsozialismus über die Welt gebracht hatte. »Na ja«, sagte er schließlich, »wenn ich meine eigenen Erfahrungen mit dem ›Dritten Reich‹ in ein Wort fassen soll, dann ist es das Wort – paradiesisch.«
    »Paradiesisch«? Das vertrug sich nicht mit dem, was ich in meinen Geschichtsbüchern gelesen hatte. Es paßte auch nicht zu diesem eleganten, gebildeten Mann, der da vor mir saß und der übrigens auch nicht so aussah und nicht so sprach, wie ich mir einen alten Nationalsozialisten vorgestellt hatte. Aber »paradiesisch«? Wie konnte er so etwas sagen? Wie konnte ein intelligenter Mensch auf diese Weise an das »Dritte Reich« und seine Greuel denken? Überhaupt, wie war es möglich, daß im 20. Jahrhundert Menschen aus Deutschland, Angehörige eines Kulturvolks im Herzen Europas, solche Verbrechen begangen hatten? Das waren die Fragen, die an diesem Nachmittag vor Jahren in meinem Kopf Gestalt annahmen und die mich noch heute beschäftigen.
    Bei meiner Suche nach Antworten halfen mir zwei historische Zufälle. Zum einen machte ich mich an die Befragung ehemaliger Nationalsozialisten genau zu dem richtigen Zeitpunkt, an dem nämlich die meisten nichts
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher