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Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz
Autoren: Laurence Rees
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selbst zum Beispiel –, die Herren des eigenen Schicksals zu sein scheinen, waren in erheblichem Maße bestimmt von ihrer Reaktion auf frühere Lebenslagen. Der Adolf Hitler der Geschichte war wesentlich geformt von der Wechselwirkung zwischen dem Vorkriegs-Hitler, einem ziellos treibenden Nichtsnutz, und den Geschehnissen des Ersten Weltkriegs, eines globalen Konflikts, über den er keine Kontrolle hatte. Ich kenne keinen seriösen Fachmann, der glaubt, daß Hitler ohne die Veränderung, die er in jenem Krieg durchmachte, und die tiefe Bitterkeit, die er fühlte, als Deutschland verlor, zur Bedeutung aufgestiegen wäre. Wir können also über die Aussage »Ohne Ersten Weltkrieg kein Hitler als Reichskanzler« hinausgehen und sagen: »Ohne Ersten Weltkrieg keine Persönlichkeit, die zu dem Hitler wurde, den die Geschichte kennt.« Und während natürlich Hitler selbst entschied, wie er sich verhalten wollte (und dabei eine Reihe von Entscheidungen traf, mit denen er sich all die Schmähungen verdiente, die man auf ihn häuft), wurde er doch erst durch diese spezifische historische Situation möglich.
    Diese Geschichte zeigt uns jedoch auch, daß, wo einzelne einem Schicksal ausgeliefert sind, in Gemeinschaften zusammenwirkende Menschen eine höhere Kultur schaffen können, die es ihrerseits einzelnen erlaubt, sich anständiger zu verhalten. Wie die Dänen ihre Juden retteten und, als sie bei Kriegsende zurückkehrten, dafür sorgten, daß sie herzlich empfangen wurden, ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Die dänische Kultur eines starken und weitverbreiteten Glaubens an die Menschenrechte trug dazu bei, daß die Mehrheit der Menschen sich uneigennützig verhielt. Aber man sollte auch wieder nicht übermäßig ins Schwärmen geraten ob dieser dänischen Erfahrung. Auch die Dänen standen unter dem starken Einfluß von Faktoren außerhalb ihrer Kontrolle: dem Zeitpunkt des nationalsozialistischen Angriffs auf die Juden (als nämlich deutlich wurde, daß die Deutschen den Krieg verloren), der Geographie ihres Landes (das die relativ geradlinige Flucht über einen schmalen Meeresarm ins neutrale Schweden gestattete) und dem Fehlen konzertierter Bemühungen der SS, die Deportation zu erzwingen. Dennoch darf man vernünftigerweise davon ausgehen, daß es einen Schutzmechanismus gegen Greuel wie Auschwitz in einzelnen Menschen gibt, die dann miteinander dafür sorgen, daß der kulturelle Sittenkodex ihrer Gesellschaft sich solchem Unrecht entgegenstellt. Die offen darwinistischen Ideale des Nationalsozialismus, die jedem »arischen« Deutschen sagten, er oder sie seien rassisch überlegen, standen natürlich dazu im Widerspruch.
    Schließlich liegt aber doch tiefe Traurigkeit über diesem Thema, die sich nicht besiegen läßt. Während der ganzen Zeit, die ich daran arbeitete, kamen die Stimmen, die ich am deutlichsten hörte, von denen, die wir nicht befragen konnten: von den 1,1 Million Menschen, die in Auschwitz ermordet wurden, und ganz besonders von den mehr als 200 000 Kindern, die dort umkamen, denen man das Recht aufzuwachsen und zu leben verweigert hat. Ein Bild vor allem haftet mir im Gedächtnis, seit ich davon gehört habe. Es ist das von den leeren Kinderwagen. »Eine der im KL inhaftierten Frauen sagte später aus, daß sie Zeugin war, wie eine große Anzahl Kinderwagen vom Lager in Richtung des Bahnhofs Auschwitz geschoben wurde. Jeweils fünf Kinderwagen wurden in einer Reihe geschoben, und der Vorbeimarsch dauerte über eine Stunde.« 11
    Die Kinder, die in diesen Kinderwagen mit ihren Müttern, Vätern, Brüdern, Schwestern, Onkeln und Tanten in Auschwitz ankamen – und die alle dort starben –, sind es, die wir nicht vergessen dürfen; ihrem Gedächtnis ist dieses Buch gewidmet.
    Laurence Rees ,
    London, Juli 2004

2. Befehle und Initiativen
    Während der Nürnberger Prozesse sprach am 7. April 1946 der amerikanische Gerichtspsychologe Dr. Gustave Gilbert mit Rudolf Höß. »Ich fragte ihn, ob er sich nicht weigern konnte, einen Befehl auszuführen«, schreibt Gilbert. 1 – »›Nein‹, antwortete Höß, ›nach unserer ganzen militärischen Ausbildung kam uns der Gedanke, einen Befehl zu verweigern, einfach nicht in den Sinn – unabhängig davon, was für ein Befehl … Ich nehme an, Sie können unsere Welt nicht verstehen. Natürlich hatte ich Befehlen zu gehorchen.«
    Damit stellte sich Höß offen in eine Reihe mit den deutschen Soldaten, die, nachdem der Krieg verloren war, die Welt
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