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Drachenflamme: Roman (German Edition)

Drachenflamme: Roman (German Edition)

Titel: Drachenflamme: Roman (German Edition)
Autoren: Naomi Novik
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1
    Es gab nur wenige Straßen innerhalb des eigentlichen Hafengebietes von Sydney, die diese Bezeichnung verdienten, wenn man vom Hauptverkehrsweg absah, und selbst der war schlecht befestigt und nur von einer Handvoll kleinerer, heruntergekommener Gebäude gesäumt, die das Herzstück der Kolonie bildeten. Tharkay verließ diese Straße und führte die Gruppe auf einen schmalen Trampelpfad zwischen zwei holzgedeckten Gebäuden, dem er folgte, bis er in einen Hof einbog und Halt machte. Dort, nicht etwa unter einem Dach, sondern lediglich unter einer aufgespannten Persenning, saßen allerlei grobschlächtige, raue Männer beisammen und taten sich an Hochprozentigem gütlich.
    Auf der Hofseite, die am weitesten von der Küche entfernt war, drängten sich die Strafgefangenen mit ihren Segeltuchhosen in ausgeblichenem Graubraun, staubig von den Feldern und Steinbrüchen und müde und erschöpft. Gegenüber saßen kleine Gruppen von Männern aus dem Neusüdwales-Korps, die mit unverhohlen unfreundlichen Gesichtern beobachteten, wie sich Laurence und seine Begleiter an einem kleinen Tisch ganz am Rand der Anlage niederließen.
    Abgesehen von der Tatsache, dass sie Fremde waren, zog Granbys Mantel die Aufmerksamkeit auf sich: Flaschengrün war hier eine ungewöhnliche Farbe, und auch wenn Granby die gröbsten Auswüchse an goldenen Borten und Knöpfen, mit denen ihn Iskierka so gerne ausstaffierte, abgetrennt hatte, war das bei der Stickerei auf den Ärmelaufschlägen und dem Kragen nicht so einfach gewesen. Laurence selbst trug schlichtes Braun. Selbstredend stand es überhaupt nicht
zur Debatte, so zu tun, als gehöre er noch dem Fliegerkorps an. Falls seine Kleidung Fragen bezüglich seiner Stellung aufwerfen sollte, dann war das nur der Situation angemessen, denn weder ihm noch sonst irgendjemandem war es bislang gelungen, herauszufinden, wie sich seine Lage in praktischer Hinsicht gestalten sollte.
    »Ich hoffe, dieser Bursche wird bald auftauchen«, bemerkte Granby missmutig. Er hatte darauf bestanden, mitzukommen, allerdings nicht, weil er den Plan guthieß.
    »Ich habe die sechste Stunde ausgemacht«, antwortete Tharkay und wandte den Kopf zur Seite, denn einer der jüngeren Offiziere war von seinem Tisch aufgestanden und kam zu ihnen.
    Acht Monate an Bord eines Schiffes, ohne eigene Pflichten und Aufgaben, stattdessen inmitten von Schiffskameraden, die sich weitgehend einig in ihrer Entschlossenheit waren, Laurence ihre Verachtung spüren zu lassen, hatten ihn auf die Szene vorbereitet, die sich nun mit beinahe ermüdender Ähnlichkeit erneut abzuzeichnen begann. Die Beleidigung selbst war vor allem deshalb lästig, weil sie, mehr als alles andere, einer Antwort bedurfte. Sie hatte jedoch nicht die Kraft zu verletzen – nicht aus dem Mund eines ungehobelten jungen Kerls, der nach Rum stank und es eigentlich nicht einmal wert war, in den armseligen Reihen einer Militäreinheit zu stehen, die man auch das Rum-Korps nannte. Laurence betrachtete Leutnant Agreuth voller Abscheu und sagte kurz und knapp: »Sir, Sie sind betrunken; gehen Sie zurück an Ihren Tisch und lassen Sie uns in Ruhe an unserem sitzen.«
    Er hatte mit diesen beschwichtigenden Worten jedoch keinen Erfolg: »Ich sehe nicht ein, warum ich …«, erwiderte Agreuth, doch seine Zunge war so schwer, dass er den Satz abbrechen und noch einmal von vorne anfangen musste, wobei er einen Teil mit ausgesuchter Deutlichkeit wiederholte, »… warum ich auf irgendetwas hören sollte, das aus dem verfluchten Mund eines Pisspotts von einem Hurensohn und Verräter …«
    Laurence erstarrte und lauschte der Tirade mit wachsender Ungläubigkeit. Er hätte diesen Gossenjargon vielleicht von einem aufgebrachten Taschendieb am Hafen erwartet, doch nie im Leben von einem Offizier. Granby fasste sich offenbar schneller, denn er sprang auf und knurrte: »Bei Gott, Sie werden sich entschuldigen, oder ich werde Sie durch die Straßen peitschen lassen, glauben Sie mir.«
    »Ich würde zu gerne sehen, wie Sie das versuchen«, antwortete Agreuth und beugte sich vor, um in Granbys Glas zu spucken. Laurence erhob sich zu spät, um Granbys Arm noch festzuhalten, ehe dieser Agreuth das Glas ins Gesicht schmetterte.
    Das bedeutete natürlich ein Ende für den letzten Rest Hoffnung auf einen zivilisierten Umgang miteinander, mochte es auch nur aufgesetzte Höflichkeit sein. Stattdessen zerrte Laurence Granby am Arm zurück, um Agreuths wild schwingender Faust zu entgehen, musste
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