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Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz
Autoren: Laurence Rees
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mehr zu verlieren hatten, wenn sie offen sprachen. Fünfzehn Jahre zuvor hatten sie einflußreiche Stellungen bekleidet und waren Stützen der Gesellschaft gewesen und hätten deshalb nicht geredet. Heute sind die meisten von ihnen, auch der charmante Herr von Oven, tot.
    Wir brauchten oft Monate, in einigen Fällen Jahre, ehe sie uns gestatteten, ein Interview aufzuzeichnen. Man weiß nie genau, was die Waagschale zu unseren Gunsten senkte und Menschen veranlaßte, sich mit dem Filmen einverstanden zu erklären, aber in vielen Fällen wollten sie offenbar, da sie dem Ende des Lebens näher rückten, ihre Erfahrungen aus dieser bedeutenden Zeit – mit allen Fehlern und Schwächen – protokollieren lassen. Außerdem glaubten sie, daß die BBC ihren Beitrag nicht verzerren würde. Ich möchte hinzufügen, daß nur die BBC uns die notwendige Unterstützung bei diesem Unternehmen bieten konnte. Die Durchführung des Projekts nahm so viel Zeit in Anspruch, daß nur eine öffentlich-rechtliche Anstalt dieses Engagement auf sich nehmen konnte.
    Zum anderen hatte ich das Glück, daß mein Interesse mit dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung Osteuropas zusammentraf; nicht nur die Archive, auch die Menschen wurden der Forschung zugänglich. Ich hatte 1989 unter dem Kommunismus in der Sowjetunion gefilmt, und damals war es schwer gewesen, jemanden dazu zu bringen, daß er sich anders als in Propagandasprüchen über die Geschichte seines Landes äußerte. Jetzt, in den neunziger Jahren, war es plötzlich, als sei ein Damm gebrochen, und all die unterdrückten Erinnerungen und Meinungen purzelten heraus. In den baltischen Staaten erzählten mir Menschen, wie sie die Nationalsozialisten als Befreier willkommen geheißen hätten; auf den wilden Kalmückensteppen hörte ich aus erster Hand von Stalins rachsüchtigen Deportationen ganzer Volksgruppen; in Sibirien traf ich ehemalige Kriegsteilnehmer, die zweimal eingesperrt worden waren – einmal von Hitler und einmal von dem sowjetischen Diktator, und in einem Dorf bei Minsk begegnete ich einer Frau, die mitten in den scheußlichsten Partisanenkrieg der neueren Geschichte geraten war und nach einigem Nachdenken fand, daß die Partisanen der Roten Armee schlimmer gewesen wären als die Deutschen. Alle diese Überzeugungen wären mit den Menschen gestorben, wenn der Kommunismus nicht zusammengebrochen wäre.
    Ich traf auf noch Erschreckenderes, als ich durch diese kurz zuvor befreiten Länder reiste, von Litauen bis zur Ukraine und von Serbien bis Weißrußland: auf bösartigen Antisemitismus. Ich hatte damit gerechnet, daß mir die Menschen erzählen würden, wie sehr sie den Kommunismus haßten; das schien nur natürlich. Aber daß sie Juden haßten? Das schien mir grotesk, zumal an den Orten, die ich aufsuchte, kaum noch Juden lebten – dafür hatten Hitler und die Nationalsozialisten gesorgt. Dennoch fand der alte Mann im Baltikum, der 1941 den Deutschen geholfen hatte, Juden zu erschießen, daß er 60 Jahre zuvor richtig gehandelt hätte. Und selbst einige von denen, die gegen die Deutschen gekämpft hatten, vertraten antisemitische Überzeugungen. Ich weiß noch, was mich ein ukrainischer ehemaliger Kämpfer beim Essen fragte. Der Mann hatte tapfer mit den ukrainischen nationalistischen Partisanen sowohl gegen die deutsche Wehrmacht als auch gegen die Rote Armee gekämpft und war dementsprechend drangsaliert worden. »Was halten Sie von der Ansicht«, fragte er mich, »daß es eine von New York ausgehende internationale Verschwörung des Finanzjudentums gibt, die alle nichtjüdischen Regierungen zu vernichten versucht?« Ich starrte ihn einen Augenblick an. Ich selbst bin kein Jude, und es ist für mich immer ein Schock, wenn ich unerwartet auf nackten Antisemitismus stoße. »Was ich davon halte?«, antwortete ich schließlich. »Ich halte das für absoluten Quatsch.« Der alten Partisan trank einen Schluck Wodka. »Tatsächlich«, sagte er, »ist das Ihre Meinung. Sehr interessant …«
    Besonders erschreckend fand ich, daß diese antisemitischen Anschauungen nicht auf die ältere Generation beschränkt waren. Ich erinnere mich an eine Frau am Flugschalter der Lithuanian Airways , die, als sie hörte, was für einen Film wir machen wollten, sagte: »Sie interessieren sich also für die Juden, ja? Aber denken Sie daran – Marx war Jude!« Ebenfalls in Litauen zeigte mir ein Armeeoffizier von Mitte Zwanzig das ehemalige Fort bei Kaunas, wo 1941 Massaker an den Juden
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