Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz
Autoren: Laurence Rees
Vom Netzwerk:
verübt worden waren, und sagte: »Sie haben das Wesentliche nicht erfaßt, wissen Sie? Es geht nicht um das, was wir den Juden angetan haben. Es geht um das, was die Juden uns angetan haben.« Ich würde nicht behaupten, daß alle Menschen – oder auch nur die Mehrheit – in den Ländern Osteuropas, die ich besucht habe, diese Ansichten teilen. Aber daß diese Art Vorurteil überhaupt so offen geäußert wird, ist beunruhigend.
    Daran sollten die Menschen denken, die der Meinung sind, daß die Geschichte in diesem Buch heute keine Bedeutung mehr hat. Und auch diejenigen, die glauben, der ätzende Antisemitismus sei irgendwie auf die Nationalsozialisten oder gar Hitler beschränkt gewesen. Tatsächlich ist die Ansicht, die Vernichtung der Juden sei irgendwie von ein paar Verrückten einem widerstrebenden Europa aufgezwungen worden, eine der gefährlichsten überhaupt. Die deutsche Gesellschaft war auch nicht »einzigartig« in ihrer Mordlust, bevor die Nationalsozialisten an die Macht gelangten. Wie denn auch, wo doch viele Juden noch in den zwanziger Jahren vor dem Antisemitismus in Osteuropa flohen und in Deutschland Zuflucht suchten?
    Trotzdem ist etwas an der Denkart der Nationalsozialisten, das nicht in Übereinstimmung mit der anderer Täter in anderen totalitären Regimen steht. Zu diesem Schluß kam ich jedenfalls, nachdem ich mich dreimal mit dem Thema Zweiter Weltkrieg befaßt hatte, jeweils mit einem Buch und einer Fernsehserie: zuerst Nazis: A Warning from History (»Nazis – eine Warnung der Geschichte«), dann War of the Century (»Jahrhundertkrieg«) über den Krieg zwischen Stalin und Hitler und schließlich Horror in the East (»Grauen im Osten«), ein Versuch, die japanische Psyche in den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs zu verstehen. Eine nicht geplante Folge war, daß ich meines Wissens der einzige Mensch bin, der eine wesentliche Zahl von Tätern aller drei großen totalitären Kriegsmächte getroffen und befragt hat: Deutschlands, Japans und der Sowjetunion. Und ich kann sagen, daß die NS-Kriegsverbrecher, denen ich begegnet bin, anders waren.
    In der Sowjetunion unter Stalin war das Klima der Angst so alles beherrschend, wie es das in Deutschland unter Hitler bis zu den letzten Kriegstagen nicht gewesen ist. Die Beschreibung eines ehemaligen sowjetischen Luftwaffenoffiziers von öffentlichen Versammlungen in den dreißiger Jahren, wo jeder als »Volksfeind« denunziert werden konnte, verfolgt mich noch heute. Niemand konnte sicher sein, daß es nicht um Mitternacht bei ihm klopfte. Egal wie man sich bemühte, alles richtig zu machen, egal wie viel Schlagworte man herunterrasselte, Stalins Bösartigkeit war so groß, daß nichts, was man sagte oder tat, einen retten konnte, wenn man einmal ins Scheinwerferlicht geraten war. Im nationalsozialistischen Deutschland dagegen konntest du, wenn du nicht gerade zu einer Risikogruppe gehörtest – Juden, Kommunisten, »Zigeuner«, Homosexuelle, »Arbeitsscheue« und natürlich alle, die das Regime bekämpften –, relativ angstfrei leben. Trotz der neueren wissenschaftlichen Arbeiten, die zu Recht betonen, daß die Gestapo bei ihrer Arbeit sehr auf Denunziationen aus der Bevölkerung angewiesen war 3 , bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung bis zu dem Augenblick, in dem Deutschland den Krieg zu verlieren begann, sich so geborgen und glücklich fühlte, daß sie auch dann dafür gestimmt hätte, Hitler an der Macht zu halten, wenn es freie und faire Wahlen gegeben hätte. In der Sowjetunion dagegen hatten nicht einmal Stalins engste und treueste Mitarbeiter das Gefühl, sie dürften ruhig schlafen.
    Diejenigen, die auf Stalins Befehl Verbrechen begingen, kannten oft die Gründe dafür nicht; die Leiden, die sie anderen zufügten, waren reine Akte der Willkür. Der ehemalige sowjetische Geheimpolizist zum Beispiel, der Kalmükken in Züge mit dem Ziel Sibirien verfrachtet hatte, wußte auch heute noch nicht genau, was hinter dieser Politik gesteckt hatte. Er hatte eine stereotype Antwort parat, wenn er gefragt wurde, weshalb er sich daran beteiligt hatte – pikanterweise die, die allgemein den Nationalsozialisten immer zugeschrieben wird. Er sagte, er habe »auf Befehl« gehandelt. Er hatte ein Verbrechen begangen, weil man es ihm befohlen hatte und weil er wußte, daß er erschossen werden würde, wenn er es nicht ausführte, und er verließ sich darauf, daß seine Vorgesetzten schon
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher