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Die Freude am Leben

Die Freude am Leben

Titel: Die Freude am Leben
Autoren: Emile Zola
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Kapitel I
    Als die Kuckucksuhr im Eßzimmer sechs schlug, verlor Chanteau alle Hoffnung. Er erhob sich mühsam aus dem Sessel, in dem er seine Beine, die schwerfälligen Beine eines Gichtkranken, an einem Koksfeuer wärmte. Seit zwei Stunden wartete er auf seine Frau, die nach fünfwöchiger Abwesenheit an diesem Tage ihre kleine Cousine Pauline Quenu aus Paris mitbringen sollte, eine zehnjährige Waise, für die das Ehepaar die Vormundschaft übernommen hatte.
    »Ich verstehe das nicht, Véronique«, sagte er und stieß die Küchentür auf. »Es muß ihnen ein Unglück zugestoßen sein.«
    Das Hausmädchen, eine große Person von fünfunddreißig Jahren mit Männerhänden und einem Gendarmengesicht, nahm gerade eine Hammelkeule vom Feuer, die sonst sicherlich verbrutzelt wäre. Sie schimpfte nicht, aber Zorn ließ die rauhe Haut ihrer Wangen bleich werden.
    »Madame wird in Paris geblieben sein«, sagte sie trocken. »Bei all diesen Geschichten, die kein Ende nehmen und die das ganze Haus durcheinanderbringen!«
    »Nein, nein«, erklärte Chanteau. »Die Depesche von gestern abend teilte mit, daß die Angelegenheit der Kleinen endgültig geregelt ist ... Meine Frau muß heute früh in Caen angekommen sein, wo sie haltgemacht hat, um bei Davoine hereinzuschauen. Um ein Uhr mußte sie wieder den Zug nehmen, um zwei in Bayeux aussteigen; um drei müßte Vater Malivoires Reisewagen sie in Arromanches abgesetzt haben, und selbst wenn Malivoire seine alte Berline nicht gleich angespannt hat, hätte meine Frau gegen vier Uhr, spätestens um halb fünf hiersein können ... Es sind kaum zehn Kilometer von Arromanches nach Bonneville.«
    Ohne die Blicke von ihrer Hammelkeule zu wenden, hörte sich die Köchin all diese Berechnungen an und schüttelte den Kopf. Er fügte nach einem Zögern hinzu:
    »Du solltest an die Ecke der Landstraße gehen und mal nachsehen, Véronique.«
    Noch bleicher vor verhaltenem Zorn, sah sie ihn an.
    »So! Und warum? Da ja doch Herr Lazare ihnen draußen schon entgegenpatscht, lohnt es sich nicht, daß ich mich bis zum Kreuz hoch eindrecke.«
    »Es ist nur«, murmelte Chanteau sanft, »weil ich jetzt auch um meinen Sohn in Unruhe bin ... Er kommt auch nicht wieder. Was kann er seit einer Stunde auf der Landstraße treiben?«
    Da nahm Véronique, ohne noch weiter ein Wort zu sagen, von einem Nagel ein altes schwarzwollenes Umschlagtuch, das sie sich um Kopf und Schultern legte. Als Chanteau ihr in den Flur folgte, sagte sie dann barsch:
    »Gehen Sie doch an Ihr Feuer zurück, wenn Sie nicht morgen den ganzen Tag lang vor Schmerzen schreien wollen.«
    Und nachdem sie die Tür zugeschlagen hatte, zog sie auf der Freitreppe ihre Holzschuhe an und schrie in den Wind:
    »Ach du großer Gott! Das ist vielleicht eine Rotznase, die sich was darauf einbilden kann, daß sie unsereinen herumscheucht!«
    Chanteau blieb friedlich. Er war an die heftigen Ausbrüche dieses Mädchens gewöhnt, das mit fünfzehn Jahren, kurz nach der Heirat der Chanteaus, ins Haus gekommen war. Als er das Klappern der Holzschuhe nicht mehr hörte, entwischte er wie ein Schüler, der schulfrei bekommt, und pflanzte sich am anderen Ende des Flures vor einer Glastür auf, die auf das Meer hinausging. Dort verharrte er eine Weile, mit seiner untersetzten und dickbäuchigen Gestalt, seiner gesunden Gesichtsfarbe, und betrachtete mit seinen hervortretenden großen blauen Augen unter der schneeigen Kappe seiner kurzgeschorenen Haare den Himmel. Er war kaum sechsundfünfzig Jahre alt; aber die Gichtanfälle, an denen er litt, hatten ihn frühzeitig altern lassen. Von seiner Unruhe abgelenkt, schaute er gedankenverloren vor sich hin und dachte, daß die kleine Pauline am Ende sicherlich Véroniques Herz erobern würde.
    Und dann, war es etwa ihre Schuld? Als dieser Anwalt aus Paris ihm geschrieben hatte, daß sein Cousin Quenu, der seit sechs Monaten verwitwet war, nun auch gestorben sei und ihn testamentarisch mit der Vormundschaft über seine Tochter betraut habe, hatte er nicht die Kraft in sich gefühlt, das abzulehnen. Gewiß, man sah sich kaum, die Familie war auseinandergerissen, Chanteaus Vater hatte vorzeiten in Caen einen Handel mit Holz aus nordischen Ländern gegründet, nachdem er Südfrankreich verlassen und als einfacher Zimmermannsgeselle das ganze Land durchwandert hatte; während der kleine Quenu gleich nach dem Tode seiner Mutter in Paris gelandet war, wo ein anderer seiner Onkel ihm später eine große Fleischerei mitten
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