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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot
Autoren: Tess Gerritsen
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1
    Ich heiße Mila, und dies ist meine Geschichte.
    Es gibt so viele Orte, an denen ich die Erzählung beginnen könnte. Ich könnte in der Stadt anfangen, in der ich aufgewachsen bin, in Kryvichy am Ufer des Servach, im Bezirk Myadzyel. Ich könnte beginnen, als ich acht Jahre alt war, an dem Tag, als meine Mutter starb, oder als ich zwölf war und mein Vater vom Lastwagen des Nachbarn überrollt wurde. Aber ich glaube, ich sollte mit meiner Geschichte hier anfangen, in der Wüste Mexikos, so weit weg von meiner weißrussischen Heimat. Hier habe ich meine Unschuld verloren. Hier musste ich meine Träume begraben.
    Es ist ein wolkenloser Novembertag, und große schwarze Vögel kreisen an einem Himmel, der blauer ist als alles, was ich im Leben je gesehen habe. Ich sitze in einem weißen Kleinbus. Der Fahrer und der Beifahrer kennen meinen richtigen Namen nicht, und sie scheinen sich auch nicht dafür zu interessieren. Sie lachen nur und nennen mich Red Sonja – den Namen haben sie mir in dem Moment gegeben, als sie mich in Mexiko City aus dem Flugzeug steigen sahen. Anja sagt, es sei wegen meiner Haare.
Red Sonja
ist der Titel eines Films, den ich nie gesehen habe, aber Anja kennt ihn. Sie flüstert mir zu, dass er von einer schönen Kriegerin handelt, die ihre Feinde mit dem Schwert fällt. Jetzt glaube ich, dass die Männer sich mit diesem Namen über mich lustig machen, denn ich bin nicht schön. Ich bin keine Kriegerin. Ich bin erst siebzehn, und ich habe Angst, weil ich nicht weiß, was als Nächstes passieren wird.
    Wir halten uns an den Händen, Anja und ich, während der Bus uns und fünf andere Mädchen durch eine wüstenartige, mit dürren Sträuchern bestandene Landschaft fährt. Einen »Pauschalurlaub in Mexiko« – das hat die Frau in Minsk uns versprochen, aber wir wussten, was das in Wirklichkeit hieß: eine Möglichkeit zu entkommen. Eine Chance. Ihr nehmt ein Flugzeug nach Mexiko, erklärte sie uns, und am Flughafen werdet ihr von Leuten abgeholt, die euch über die Grenze bringen und euch helfen, euer neues Leben zu beginnen. »Was habt ihr denn hier für eine Zukunft?«, hat sie uns gefragt. »Hier gibt es keine guten Jobs für Mädchen wie euch, keine Wohnungen, keine anständigen Männer. Ihr habt keine Eltern, die euch unterstützen. Und du, Mila – du sprichst so gut Englisch«, sagte sie zu mir. »Du wirst dich in Amerika im Handumdrehen zurechtfinden. Nur keine Angst! Lasst euch die Gelegenheit nicht entgehen. Eure künftigen Arbeitgeber übernehmen alle Kosten – also, worauf wartet ihr beiden noch?«
    Nicht auf das hier, denke ich, während die endlose Wüste an unseren Fenstern vorüberzieht. Während Anja sich eng an mich schmiegt und die anderen Mädchen im Wagen ganz still sind. Allmählich drängt sich uns allen dieselbe Frage auf:
Worauf habe ich mich da bloß eingelassen?
    Wir fahren schon den ganzen Morgen. Die zwei Männer auf den Vordersitzen reden nicht mit uns, aber der Beifahrer dreht sich immer wieder zu uns um und wirft uns merkwürdige Blicke zu. Immer wieder heften sich seine Augen auf Anja, und die Art und Weise, wie er sie anstarrt, gefällt mir ganz und gar nicht. Sie bekommt nichts davon mit, weil sie an meiner Schulter eingeschlafen ist. Das Mäuschen – so haben wir sie in der Schule immer genannt, weil sie so schüchtern ist. Sobald ein Junge sie auch nur anschaut, wird sie knallrot. Sie ist so alt wie ich, aber wenn ich in Anjas schlafendes Gesicht schaue, dann sehe ich ein Kind. Und ich denke: Ich hätte sie nicht mitnehmen sollen. Ich hätte ihr sagen müssen, dass sie in Kryvichy bleiben soll.
    Endlich biegt der Bus von der Schnellstraße ab und rumpelt weiter über eine ungeteerte Piste. Die anderen Mädchen wachen auf und starren aus den Fenstern auf braune Hügel, übersät mit Felsbrocken, die wie ausgebleichte Knochen aussehen. In meiner Heimatstadt ist schon der erste Schnee gefallen, aber hier in diesem winterlosen Land gibt es nur Staub und blauen Himmel und dürre Sträucher. Wir halten an, und die beiden Männer drehen sich zu uns um.
    Der Fahrer sagt auf Russisch: »Jetzt heißt’s raus aus dem Auto und zu Fuß weitergehen. Das ist der einzige Weg über die Grenze.«
    Sie öffnen die Schiebetür, und eine nach der anderen steigen wir aus, sieben Mädchen, die blinzeln und sich nach der langen Autofahrt recken und strecken. Trotz des strahlenden Sonnenscheins ist es kühl hier, viel kälter, als ich gedacht hatte. Anja birgt ihre Hand in meiner,
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