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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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fallen und tanze. Die Wellen breiten sich augenblicklich aus. Ich bewege mich durch die Blicke der Beobachtenden wie durch kühle Schleier. Ohne die Musik, denke ich, wäre ich ein einsamer, besessener Körper, ein sich windendes Etwas zwischen Schönheit und Groteske. Wäre ungeschützt vor den Blicken der kleinen Menge und nackt. Aber die Musik ist so dicht, ein Mantel, ein Kleid, eine Entschuldigung, sich so zu bewegen. Zwei oder drei Gäste beginnen ihre Gläser abzustellen und mir zu folgen. Der Bann ist gebrochen.
    Irgendwo unter den Gästen bist auch du. Ich kann dich auf zwanzig Meter riechen, auch wenn ich dich nicht sehe. Ich habe ein Gespür für dich. Ich weiß nicht warum. Du bist ein trauriger Prinz, der ungeheuer langsam an seinen Red Russians nippt. Meist stehst du mit dem Rücken zur Wand und lehnst dort bewegungslos. Ich sah dich nie tanzen.
    Zum letzten Mal geküsst habe ich dich im letzten Winter. Mit Gedanken an dich vertrieb ich einen anderen Mann aus meinem Kopf. Ich benutzte dich als Skalpell, um mich der längst verstummten Liebe zu entledigen. Atemlos über die Präzision des Schnitts verlor ich mich in deinen Augen. Du warst ein Beobachter, rau und schweigsam, der nichts forderte und trotzdem alles nahm, was ich gab. Wir trafen uns ein paar Wochen, wir beide. Der Schnee flog in Spiralen um unsere Köpfe. Aus mundgeblasenen Gläsern tranken wir Tee. Dann schliefen unsere Verabredungen ein.
    Im Grunde hatte ich dich seit Jahren gekannt. Du warst an derselben Schule, warst in schwarzen Hemden zur Schule gekommen und trugst manchmal einen Schlips. Dieser Schlips war grau, selten rot, und prinzipiell zu locker gebunden, so dass dein Hals immer frei lag. So saßt du dann, mit Rabenhaar und Rabenblick, unter deinesgleichen oder allein. Ich hatte gehört, dass du dir Programmieren beibringen würdest und dieselbe Musik mochtest wie ich. Aber ich hätte mich niemals an dich herangetraut. Ich hatte mir dich vage als einen vorgestellt, der eines Tages einen Stockholmer oder Londoner oder Bostoner Bürostuhl besetzen würde, stilbewusst, erfolgreich und vor allem weit weg.
    Stattdessen traf ich dich ein paar Jahre später in der nächsten Großstadt wieder. Wir waren keine Schulkinder mehr, und das Gespräch, der Kaffee und die Geneigtheit ergaben sich plötzlich von allein. Das war vor knapp zwei Jahren. Ich fragte mich, was wohl passiert wäre, hätte ich zu Schulzeiten, als halbgarer Backfisch, als grüne Siebtklassennymphe, dich, den vier Jahre älteren Schlipsträger, den Rabenprinzen, einfach angesprochen. Vielleicht wäre nichts passiert. Vielleicht eine ganze Menge.
    Plötzlich ist Lora neben mir. Ich sehe Bruchstücke ihres Körpers, das Licht fällt auf den ledernen Hintern, nackte Schultern. Ich wirble ein Stück weit weg von ihr. Ihre Arme sind zwei pralle Tiere, sie hebt die Stirn ins Licht. Sie hat selten dieses breite Lachen wie heute. Ihre Zähne schimmern, sie glänzt. Ich fühle mich kleiner werden neben ihr. Ich fühle mich wie ein flachbrüstiges Kind neben einer echten Frau. Ich werfe mich rücksichtsloser in die Musik, lege die Hände auf meine Hüften und sehe Lora nicht an.
    Während die Nacht vergeht, steigt das Tempo der Musik, flimmert der Raum um mich wie eine Kinoleinwand mit vierundzwanzig Bildern pro Sekunde. Dann sinkt die Taktrate, zwölf Bilder, vier Bilder. Die Szenerie vor mir zuckt träge, ein metallischer Puls, das Daumenkino großer Maschinen. Ich trinke zwei Gläser Wasser und tanze weiter. Körper bewegen sich um mich, aber ich nehme sie nicht mehr wahr. Die Luft irisiert.
    Als ich genug habe, durchquere ich die Bar, gehe in den dritten Raum. Heute werden hier Filme an die Wand projiziert. Allerdings mit verschwommenen Bildern, so dass nur ein Viereck aus fließendem Licht zu sehen ist. Ich kann nichts erkennen. Die Musik ist ein surrealer, metallischer Walgesang. Etwa ein Dutzend Leute wiegen sich im langsamen Rhythmus.
    Meine Augen bleiben an der Wand mit den Projektionen hängen. Mal wimmelt es rosa, mal violett und rot. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier Pornos abgespielt werden, verschwommen und tonlos. Ich sehe mich um.
    Du sitzt an einem Tisch nicht weit von mir. Deine Augen liegen tief und schattig und haben mich längst entdeckt. Dein schwarzes Haar wirft schimmernde Reflexionen, an anderen Stellen verschluckt der Glanz sich selbst, ein seltsames Geben und Nehmen von Licht. Die Projektionen im Raum schwingen gerade um, von Elfenbein
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