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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe
Autoren: Marion Brasch
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Eins
    I ch war also vier Jahre alt, als ich das erste Mal von zu Hause fortlief. Ich kann mich daran erinnern, weil meine Mutter mich früher als sonst zum Mittagsschlaf ins Bett schickte. Normalerweise durfte ich sonntags nach dem Essen noch eine halbe Stunde bei den Erwachsenen spielen. Für normale Sonntage wie diesen hatte ich ein wechselndes Arsenal an Spielsachen, das ich in meiner Spieldecke ins Esszimmer zu schleifen und unter dem Esstisch auszubreiten pflegte. An normalen Sonntagen wie diesem saßen meine Eltern und meine beiden größeren Brüder um diesen Tisch. Diesmal war sogar mein dritter und ältester Bruder da, der sich immer seltener blicken ließ.
    Er war neunzehn, sah toll aus und trug eine Lederjacke, die unglaublich gut roch und bei jeder seiner Bewegungen knarzte wie ein alter Baum. Je erregter das Gespräch am Tisch wurde, desto schneller und lauter schien auch die Jacke zu sprechen. Ein faszinierender, aber irgendwie auch beunruhigender Vorgang, den ich gebannt verfolgte, bis das Gesicht meiner Mutter unter dem Tisch erschien und mir mit großer Bestimmtheit bedeutete, dass ich diesen Ort ganz schnell in Richtung Kinderzimmer zu verlassen hätte.
    Ich ließ mir Zeit. Denn sosehr ich es auch hasste, wenn sie sich stritten – noch mehr hasste ich es, ihnen aus der Verbannung dabei zuhören zu müssen. Doch es nutzte nichts, irgendwann war ich allein in meinem blöden Bett im Kinderzimmer. Allerdings nicht sehr lange, denn bald wurde auch mein jüngster Bruder rausgeschmissen. Er, der mit neun Jahren eigentlich schon lange keinen Mittagsschlaf mehr machen musste. Er, der immer so tat, als würde er die Erwachsenen verstehen. Er, der im Doppelstockbett immer oben schlafen durfte.
    Fluchend schmiss er die Kinderzimmertür zu, klärte mich über »die Spießigkeit der Alten« auf und ließ seine Wut mit kindlicher Grausamkeit an meiner Lieblingspuppe aus, indem er ihr mit den Worten »Die sieht doch so viel besser aus!« das Gummigesicht eindrückte. Danach kletterte er in sein Bett und schwieg beleidigt.
    An normalen Sonntagen hätte ich nach der Sache mit der Puppe etwas nach ihm geworfen und wäre petzen gegangen. Doch dieser Sonntag war anders. Vielleicht war ich erwachsener geworden, vielleicht fiel auch einfach nur eine Tür zu viel zu – es spielte keine Rolle. Ich wollte weg. Türmen.
     
    Türmen. Das war das Wort, das meine Mutter benutzte, wenn sie von England sprach. »Wir sind getürmt«, sagte sie und erzählte mir irgendwann auch von der Zahnbürste, mit der sie und ihre Schwester in Wien unter Aufsicht der Nazis die Straße putzen mussten. Sie erzählte diese Geschichte beiläufig. Wie eine Episode, die sie normalerweise vergessen hätte. Wie eine Anekdote, an die man sich nur wegen einer Nebensächlichkeit erinnert: eine Zahnbürste, die danach zu nichts mehr zu gebrauchen war.
    Ich dachte damals, das sei ein Spiel gewesen: Wer verliert, putzt eben die Straße mit der Zahnbürste, na und? Und Nazis – das Wort klang aus ihrem weichen wienerischen Mund so, als handelte es sich um eine putzige Hunderasse. Doch türmen – das Wort war toll.
    Ich stellte mir meine Mutter vor, wie sie sich mit ihren Habseligkeiten verwegen von einem Turm zum nächsten schwang und irgendwann in London ankam. So was wollte ich auch versuchen. Doch die Zeit schien einfach noch nicht reif, und es gab in meiner Gegend auch irgendwie nicht genügend Türme. Deshalb kam ich nur bis zum Bahnhof Alexanderplatz.
    Den Weg dorthin hätte ich mit geschlossenen Augen gehen können. Das hatte ich oft an der Hand meines Vaters geübt, wenn er mich am Wochenende zum Zigarettenholen mitnahm. Wir hatten einen Geheimcode. Einmal die Hand drücken: Bürgersteig runter, zweimal die Hand drücken: Bürgersteig rauf. Anfangs blinzelte ich noch manchmal, irgendwann nicht mehr. Ich öffnete die Augen erst, wenn ich den Laden roch, in dem mein Vater sich Zigaretten und mir Süßigkeiten kaufte. Das Geschäft duftete nach Tabak und Kaffee. Ich mochte diesen Duft, konnte ihn aber nicht genießen, weil die Verkäuferin eine fette Idiotin war. Sie behandelte mich, als sei sie mit mir verwandt, und tätschelte mit ihren dicken Wurstfingern mein Kinn, als wollte sie es mir bei nächster Gelegenheit klauen, weil sie selbst keins mehr hatte. Das alles hätte ich leicht ertragen, wäre sie nicht so scharf auf meinen Vater gewesen: »Na, Herr Stellvertretender Minister?«, pflegte sie zu schleimen. »Die Guten, wie immer?« Mein
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