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Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)

Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)

Titel: Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
Autoren: Raik Thorstad , Jannis Plastargias , C. Dewi , Gerry Stratmann
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C. Dewi
Hunger
    - Mate -
    „Wir haben da eine Auffälligkeit in der Packliste von Container 531252 der
Celtic Star
.“
    Müde hebe ich den Blick und sehe zu Jorge hoch, der mit einem Wust von Papieren vor meinem Schreibtisch steht. Der Großteil meiner Kollegen hat bereits Feierabend gemacht, so kurz vor
dem Nationalfeiertag zieht es alle nach Hause. Dieses Jahr fällt er auf einen Freitag, was für die Mehrheit der Chilenen ein langes Wochenende bedeutet. Wahrscheinlich sind die
Supermärkte zum Bersten gefüllt mit Leuten, die meinen, sie müssten sich für den atomaren Winter rüsten. Abwartend sieht mich Jorge an. Ich weiß genau, dass auch er
keinen Nerv mehr hat, sich mit der Sache zu befassen. Er will zu seiner Frau und seinem Sohn. Immerhin hat er nun drei Tage frei, der Glückspilz. Ich hingegen werde morgen ganz regulär
arbeiten. Der Hafen schläft nicht, weder an Weihnachten noch am 18. September, dem Unabhängigkeitstag.
    „Ich kümmere mich drum. Jetzt hau schon ab.“
    Mit einem kurzen Rucken meines Kopfes in Richtung Tür unterstreiche ich meine Aussage. Jorge legt die Papiere oben in meinen Ablagekorb, lächelt und klopft mir im Weggehen kurz auf die
Schulter.
    „Dank dir, Julian. Hast was gut bei mir.“
    Ich brumme eine Erwiderung, die er kaum noch mitbekommen dürfte, so schnell macht er sich aus dem Staub. Er ist ein netter Kerl, wenngleich ich mir jedes Mal die Haare raufen könnte,
wenn ich das Chaos auf seinem Schreibtisch sehe. Ich ahne, dass ich die Unterlagen, die er mir dagelassen hat, erst einmal von Grund auf werde ordnen müssen, bevor ich durchsteige. Bis ich
dazu komme, mich dem Container 53-irgendwas zu widmen, wollen zwei andere Fälle bearbeitet werden. Zum Glück gibt es bei diesen keine Beanstandungen. Ich frage mich immer, was so schwer
daran zu verstehen ist, dass keine frischen Lebensmittel, kein Saatgut, kein Obst, kein Gemüse und auch keine tierischen Produkte eingeführt werden dürfen. Die Befürchtungen,
dass über solche Dinge bisher in Chile nicht verbreitete Schädlinge und Krankheiten eingeschleppt werden könnten, sind so groß, dass schon vor Jahrzehnten sehr rigide
Einfuhrrichtlinien aufgestellt wurden.
    Draußen ist es stockfinster, fast alle Lichter im Büro sind aus und nur noch mein alter Computer brummt vor sich hin, als ich mich mit Jorges Fall befasse. Ich runzele die Stirn,
während ich die Papiere auseinander fleddere. Der Container kommt aus Deutschland und enthält Umzugsgüter. Auf den ausführlichen Packlisten sind Haushaltsgegenstände,
Kleidung, Bücher und einige gebrauchte technische Geräte aufgeführt.
    Nach einer Weile entdecke ich, was Jorge gemeint hat. Die Ladung des Containers enthält mehrere Kisten mit Lebensmitteln. Ein Großteil davon unbedenklich, da bereits industriell
verarbeitet. Die Deklarierung „Gewürze“ hingegen weckt mein Misstrauen. Gemahlen und verarbeitet dürfen sie eingeführt werden, aber viele Menschen führen in solch
einem Fall auch Saaten oder Wurzeln mit ein. Und wer weiß, was sonst noch in den Kartons schlummert; oft ist es unglaublich, was wir in Umzügen entdecken.
    Mit einem lauten Gähnen – immerhin ist keiner außer mir mehr da – strecke ich mich und versuche meine verspannten Schultern zu lockern. Mein dunkelgrauer Anzug,
Hemd und Krawatte sitzen nicht mehr so korrekt, wie sie es zu Beginn meines Arbeitstages noch taten. Meine Augen brennen. Ich sollte nach Hause gehen, auch, wenn mich in meiner kleinen Bruchbude
nichts weiter erwartet als der plärrende Fernseher meiner Nachbarin, den man durch die dünnen Wände hört, als stünde er direkt neben einem.
    Ich wohne nicht gerade in einem der besten Stadtviertel Valparaísos, aber es ist allemal besser als die
Población
, das Elendsviertel, in dem ich aufgewachsen bin. Kein
guter Ort, um groß zu werden. Ein noch schlechterer Ort, wenn man der Armut entrinnen will. Ein ganz und gar falscher Ort, wenn man frei sein möchte.
    Ich blinzele, denn die Buchstaben auf meinem Monitor verschwimmen. Mit einem Seufzen fahre ich den Rechner herunter und schiebe die Unterlagen zusammen. Dabei fällt mir eine kleine Notiz
auf, die in Jorges krakeliger Handschrift auf einen gelben Post-it geschrieben ist. Wie es scheint, hat der Besitzer der Ladung bereits angerufen und sich erkundigt, warum der Container bei uns
hängen geblieben ist. Mir schwant Übles …
    Morgen. Damit werde ich mich morgen befassen. Eine Weile starre ich stumpf auf die
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