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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren
Autoren: Sascha Buzmann
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1. Entführung
    Die Zeitungen werden später schreiben,
dass an diesem 9. Januar 1986 ein Schneesturm tobte. Aber es ist nur für die Erwachsenen ein Schneesturm; für mich, einen kleinen Jungen von neun Jahren, ist es ein Wintermärchen. Schneeflocken, groß wie mein Handteller, fallen vom Himmel. Sie bedecken mich, bedecken die Straße, die Bäume, die Häuser, sie bedecken die ganze Welt. Eben bin ich aus dem Bus ausgestiegen. Von der Haltestelle bis zu meinem Elternhaus sind es keine 200 Meter. Als ich losstapfe, denke ich daran, dass meine Fußstapfen in kurzer Zeit nicht mehr da sein werden. Sie werden vom Schnee bedeckt sein, der alle Spuren beseitigt und alle Geräusche dämpft und die ganze Erde in eine Zauberwelt verwandelt.
    Ein Schneemann bleibt, denke ich. Ich sollte einen Schneemann bauen.
    Ich knie nieder und sehe meinen Händen zu, wie sie weit ausholen, um genug Schnee für eine große Kugel einzufangen. Mein Schneemann soll so groß sein wie ich, nein, größer will ich ihn, mindestens doppelt so groß. Ich bin 1,33 Meter, und ich überlege mir, wie ich einen Schneemann bauen kann, der doppelt so groß ist. Vielleicht mit einem Stuhl, vielleicht, wenn ich einen Stuhl hole und darauf stehe? Ich bin gefangen in meinem Spiel, bin in einer anderen Welt, in einer unschuldigen Kinderwelt. Ich denke an meinen Schneemann und dass ich eine Möhre für seine Nase möchte und zwei Kohlenstücke für die Augen. Und einen Hut; natürlich, mein Schneemann braucht einen Hut, und in der Hand hält er einen Besen, so wie es sich gehört. Ich denke daran, wie sich meine Schwester freuen wird, wenn sie heimkommt, und meine Eltern und alle Leute, die bei uns im Haus wohnen, sobald sie aus der Tür treten und mein Schneemann sie begrüßt. Ich forme die Schneekugel noch größer und überlege mir, dass ich zwei weitere brauche …
    Ich sehe den Mann nicht kommen. Ich höre ihn auch nicht, der Schnee dämpft seine Geräusche. Er packt mich brutal, sein Arm legt sich um meinen Hals. Er würgt mich, ich schnappe nach Luft. Er sagt etwas, aber ich verstehe ihn nicht. Er zerrt mich mit sich. Wie einen Sack zerrt er mich mit sich. Meine Beine sind frei, ich strample, ich wehre mich, aber er ist stärker, er ist so viel stärker als ich. Er schleppt mich zum Gebüsch neben unserm Haus. Schnee dringt unter meine Jacke, während der Mann mich ins Gebüsch schleift, und dann ist er auf mir. Sein Atem stinkt, sein Gesicht ist ganz nahe, zu einer Fratze verzerrt, er versucht, seinen Mund auf meinen zu drücken. Wieder strample ich und schlage nach ihm, aber er legt sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich. Es ist, als wolle er mich erdrücken. Ich bekomme keine Luft und öffne panisch den Mund, und da drückt er seinen darauf, und alles, was man von mir hören kann, ist ein ersticktes Gurgeln.
    Niemand kann das hören. Niemand kann uns sehen. Es schneit in dicken Winterzauberflocken, und die Erwachsenen sind zuhause, auch meine Eltern sind zuhause, keine zwanzig Meter von mir entfernt, getrennt durch die Hauswand, ein Gebüsch und einen Fremden, der mich jetzt packt und hinter sich herschleppt.
    Ich muss sterben, denke ich. Der bringt dich um.
    Panik überkommt mich. Meine Beine versagen ihren Dienst, und ich stolpere, aber der Mann reißt mich hoch. Er beschleunigt seine Schritte, sein Griff um meinen Arm ist wie ein kaltes Stück Eisen. Verzweifelt drehe ich den Kopf. Da sehe ich das helle Licht aus dem Küchenfenster unserer Wohnung scheinen, und in dem Lichtkegel steht mein Vater. Ich will schreien, will ihn auf mich aufmerksam machen, aber der Mann zischt: »Kein Wort, oder du bist tot.« Der Schrei erstickt in meiner Kehle. Jetzt sind wir schon dreißig Meter vom Haus entfernt, vierzig Meter, fünfzig Meter, hundert Meter. Vor uns liegt ein weites, schneebedecktes Feld. Es verliert sich am Horizont, wo Erde und Himmel im Schneesturm zu einem unbestimmten Etwas verschmelzen. Darauf läuft der Fremde zu. Mich schleift er mit sich, als sei ich eine leblose Puppe.
    Das alles dauert keine fünf Minuten. Es ist der Beginn eines Martyriums, das 86 Tage dauern soll. Es ist der Beginn meines Martyriums. Noch nie musste ein Kind in Deutschland so lange in der Gewalt eines Sexualtäters ausharren. Und auch nach meiner Befreiung ist das Martyrium für mich nicht vorbei. Es dauert bis heute an, auch wenn ich vieles vergessen habe.
    Nein, das stimmt nicht. Ich habe nichts vergessen. Es muss heißen: Das Martyrium dauert bis heute an, aber
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