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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren
Autoren: Sascha Buzmann
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abreisen. Ich werde gar nicht erst abwarten, bis meine Arbeit beginnt, ich werde sie gleich antreten. Von mir aus unentgeltlich. Dort wird keiner an meiner Tür klingeln, dort will niemand mit mir über etwas sprechen, das so lange zurückliegt, aber mich noch immer nicht in Ruhe lässt.
    Aber ich gehe nicht zurück zum Tisch. Stattdessen drehe ich mich um. Ich beuge mich hinab zur Gegensprechanlage. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist. Vielleicht ist der Mann an der Haustür bereits verschwunden. Dann soll es mir auch recht sein.
    »Sind Sie noch da?« Meine Stimme klingt belegt. Als ob ich auf einmal erkältet bin, als ob ich ein Reibeisen verschluckt habe.
    »Ja«, antwortet er. »Kann ich raufkommen?«
    »Nein«, sage ich. »Werfen Sie Ihre Visitenkarte in den Briefkasten. Ich melde mich.«
    Später sitze ich lange am Tisch und starre auf den Arbeitsvertrag. Ich spiele mit einem Kugelschreiber in der Hand, aber setze nicht meinen Namen aufs Papier. Ich gehe auch nicht zum Briefkasten, um die Visitenkarte zu holen. Ich bleibe einfach sitzen, wie ich es oft tue. Ich kann stundenlang sitzen und vor mich hin träumen. Ich zünde mir eine Zigarette an, und als ich sie fast aufgeraucht habe, zünde ich an ihrer Glut eine neue an. Irgendwann dämmert es. Es wird Abend, und als ich zur Packung greife, ist sie leer. Ich stehe auf, öffne das Fenster. Aus der Küche hole ich einen feuchten Lappen und wische die Zigarettenkrümel weg. Dann nehme ich den Briefkastenschlüssel. Langsam steige ich die Treppen hinab, jeder Schritt fällt mir schwer. Zwischen Rechnungen und Prospekten finde ich die Visitenkarte. Darauf das Logo des Nachrichtenmagazins, darunter ein Name und eine Telefonnummer. Ich drehe die Karte um. »Bitte rufen Sie mich an«, hat der Mann hinten draufgekritzelt.
    Nein, das tue ich nicht.
    Ich habe schon jetzt zu viel getan.
    Dann greift meine Hand trotzdem zum Telefon. Das macht sie einfach so, ohne mein Mittun. Meine Finger wählen die Nummer auf der Karte, auch das machen sie ohne mein Mittun. Irgendwie hat sich mein Denken verabschiedet, diese Kontrollinstanz, die seit ewiger Zeit dafür sorgt, dass mich die Vergangenheit nicht ständig aufs Neue quält. Als ich heute Morgen aufstand, gab es keinerlei Anzeichen, dass sich das heute ändern soll. Aber so ist es. Ab heute wird alles anders sein.
    »Hallo«, sagt der Reporter.
    »Hier ist Sascha Buzmann. Wollen Sie mich noch immer sprechen?«
    Für einen Augenblick herrscht verblüffte Stille. Dann sagt er: »Ich freue mich, dass Sie es sich anders überlegt haben.«
    Habe ich das? Ich weiß es nicht. Ich habe nur einen ersten Schritt getan, der mich aus der Isolierung führen soll. Er wird mich mit meiner Vergangenheit konfrontieren. Hätte ich gewusst, wie schmerzhaft das Erinnern ist, hätte ich es vielleicht nicht getan. Aber davon weiß ich in diesem Augenblick nichts. So wenig, wie ich vor 25 Jahren nichts von der kranken Welt der Erwachsenen wusste.

Er bringt dich zum See,
schießt es mir durch den Kopf. Er wird dich ersäufen!
    Im Schneesturm kann ich nicht genau erkennen, wo wir sind. Dort hinten muss der Golfplatz liegen, da gibt es einen kleinen See. Er will mich hinbringen und mich ins Wasser werfen und meinen Kopf runterdrücken, so lange, bis meine Beine und Arme aufhören zu zappeln, bis ich still bin. Das wird er tun, weil ich jetzt nicht still gewesen bin, weil ich etwas gesagt habe, weil ich gesagt habe: »Ich bin doch ein Junge!«
    »Ich bin kein Mädchen! Ich bin ein Junge!« Das sagte ich im Gebüsch. Als er seinen Mund auf meinen presste. Als er mich küssen wollte. Dort im Gebüsch wurde mir auf einmal klar, dass ich den Mann schon einmal gesehen habe. Vorhin im Bus. Da hat er mir Blicke zugeworfen. Oder vielleicht auch Katrin. Katrin sitzt neben mir in der Linie 25, weil meine Schwester Jenny es so will. Wir haben die letzten Stunden mit Rollschuhfahren verbracht, in der Rollschuhdisko »Roll On« in Wiesbaden-Biebrich. Da treffen sich Leute, die Hip-Hop machen oder Breakdance oder Graffiti sprühen. Aber auch wir Kleinen dürfen zur Musik unsere Runden drehen. Weil ich ganz vernarrt ins Rollschuhlaufen bin, muss Jenny ein Auge auf mich haben. Obwohl sie mit ihren sechzehn Jahren auch andere Dinge im Kopf hat, tut sie das ganz gewissenhaft. Aber sie darf länger bleiben, während ich nach Hause muss, wenn es am Schönsten ist. Mit Mama und Papa hat Jenny ausgemacht, dass sie mich zu ihrer Freundin Katrin in den Bus setzt.
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