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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren
Autoren: Sascha Buzmann
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Stimme zu erheben. Sie ist in meinem Kopf, und sie ist klar und deutlich. »Wenn du wegläufst«, sagt sie nochmals, »fängt er dich und erschlägt dich mit einem Stein.«
    Ich muss nicht sprechen, um mich mit der Stimme zu verständigen. Ich muss nicht sprechen, um mit Gott zu reden. »Wenn ich nicht abhaue«, fragen meine Gedanken, »komme ich dann wieder nach Hause?« Ich lausche, aber erhalte keine Antwort. »Komme ich wieder nach Hause???« Jetzt schreie ich innerlich, aber erhalte noch immer keine Antwort.
    »Bitte, lieber Gott!!! Gib mir ein Zeichen!!!«
    In meinem ganzen Leben habe ich noch nie eine solche Verzweiflung gespürt. Sie lässt sogar meine Tränen versiegen. Wir sind jetzt am See, der Mann bleibt stehen. Ich schaue zu ihm auf, aber etwas über ihm lenkt mich ab. Über ihm wird es hell, und dann sehe ich es: Eine Sternschnuppe saust über den Himmel. Nie zuvor habe ich ein helleres Licht mitten in der Nacht gesehen. Auch der Mann hebt den Kopf. Für einen Augenblick lockert sich sein Griff. Da kommt die Stimme wieder: »Nicht weglaufen! Er kriegt dich und erschlägt dich mit einem Stein.«
    Die Sternschnuppe verglüht am Horizont. Es wird wieder dunkel, und es ist, als sei sie nie da gewesen. Doch für mich ist die Schnuppe ein Zeichen. Ein Zeichen, das sagt: »Vertraue mir.«
    »Wo geht es nach Hochheim?«, fragt der Mann unvermittelt. »Weißt du es?«
    »Ja«, antworte ich. »Ich kenne den Weg.«

Die Welt ist ein seltsamer Ort. Während ich in meiner kleinen Wohnung lebe, meiner Arbeit nachgehe und versuche, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen, gibt es da draußen Menschen, die das Gegenteil tun. Sie suchen Geschichten fremder Leute, und wenn sie etwas gefunden haben, machen sie sich auf den Weg. Sie legen weite Strecken zurück und klingeln an fremden Türen. Sie sagen: »Ich würde mich gerne mit Ihnen über Ihre Entführung unterhalten.« Ich weiß nicht, ob sich diese Menschen darüber im Klaren sind, was sie damit auslösen. Sie sagen: »Ihre Geschichte darf man nicht vergessen.« Und wahrscheinlich haben sie recht. Dabei habe ich immer wieder versucht, meine Geschichte zu vergessen, und vielleicht wäre es mir eines Tages auch gelungen. Doch es soll anders kommen. Wie es in meinem Leben immer anders kommt.
    Der Reporter des Nachrichtenmagazins schlägt vor, sich zu treffen. Unverbindlich, sagt er, und das müsste mich eigentlich stutzig machen, denn aus welchem Grund sollte etwas für mich verbindlich sein? Wir verabreden uns in einem Café in Wiesbaden. Ich habe kein Auto mehr – auch aus Gründen, weil in meinem Leben immer alles anders kommt, als ich es plane – und fahre seither Zug und Bus. Der Busbahnhof liegt nicht weit von meiner Wohnung entfernt, und während ich dorthin spaziere, sieht man mir nicht an, dass hier einer unterwegs ist, an dessen Geschichte die Leute eines bekannten Nachrichtenmagazins interessiert sind. Keiner kann das sehen. So wie auch ich nicht sehe, wie es um die Menschen steht, die mir auf meinem Weg begegnen. Die mit mir in den Bus steigen und durch den Taunus nach Wiesbaden fahren. Vielleicht haben sie eine ähnliche Geschichte? Vielleicht sind auch sie mit einem Redakteur verabredet? Ich merke, je näher die Verabredung rückt, umso schneller kreiseln die Gedanken in meinem Kopf. Jemand will mit mir über meine Vergangenheit sprechen, und ich habe »Ja« gesagt. Warum um alles in der Welt habe ich das getan? Muss ich jetzt über alles sprechen? Ich könnte doch an der nächsten Haltestelle aussteigen und wieder nach Hause fahren. Dort wartet ein Arbeitsvertrag auf mich. In ein paar Stunden kann ich Richtung Österreich unterwegs sein, weit weg von neugierigen Menschen, die sich für meine Entführung interessieren.
    Während ich diese Sätze niederschreibe, wird mir klar, dass dieses Treffen einen Wendepunkt in meinem Leben darstellt. Eine Herausforderung, der ich mich gestellt habe. An diesem Tag bin ich nicht weggelaufen, sondern habe damit begonnen, meinem Schicksal ins Gesicht zu sehen. Dem fremden Reporter, der in alten Archiven wühlte und darin auf meine Geschichte stieß, verdanke ich es, dass sich mein Leben nun in eine andere Richtung bewegt. Weil er sich auf den Weg machte und an einer fremden Tür klingelte und es mir gelang, die Herausforderung anzunehmen und mich selbst zu überwinden. Ich stieg nicht aus dem Bus. Ich fuhr nicht nach Hause zurück.
    In Wiesbaden treffen wir uns bei Starbucks in der Nähe des Hauptbahnhofs. Der
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