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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren
Autoren: Sascha Buzmann
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Marc Hoffmann den achtjährigen Felix in seinen Wagen lockte. Wir denken ja oft, was können wir schon tun? All die schrecklichen Ereignisse auf der Welt – für ein paar Tage machen sie Schlagzeilen, dann dreht sich die Welt weiter, und keiner erinnert sich mehr. Das habe auch ich gedacht. Doch heute erfahre ich, dass es nicht stimmt. Dass es Menschen gibt, die sich selbst nach 25 Jahren noch erinnern. Vielleicht kann ein Artikel in dem Nachrichtenmagazin nicht viel ausrichten, denke ich, aber verdammt nochmal, ich sollte es wenigstens versuchen!
    Als ich in meine Wohnung zurückkehre, kontrolliere ich, ob alles in Ordnung ist. Ich lebe unterm Dach und habe ständig Angst, dass jemand durchs Fenster steigt. Diese Angst kann ich nicht ablegen, daher habe ich alles mit Ketten verriegelt. Doch niemand ist eingebrochen, die Wohnung ist so, wie ich sie vor wenigen Stunden verlassen habe. Und doch ist alles anders. Ich bin anders. Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich greife zum Telefon und wähle die Nummer des Reporters. Als er sich meldet, sage ich: »Ich habe es mir überlegt. Ich mache mit.«
    Wir reden einige Minuten miteinander. Er fragt, ob er mit meinen Eltern sprechen darf. Vorausgesetzt natürlich, sie wollen mit ihm sprechen. Ich gebe mein Okay, bitte ihn aber zu warten, bis ich mit ihnen geredet habe. Es wird mir klar, der kleine Satz »Ich mache mit« bedeutet mehr, als sich einmal mit einem Reporter zu unterhalten.

Ich habe jedes Gefühl für die Zeit verloren.
Der Mann umklammert mein Handgelenk, ich kann kaum Schritt halten, aber ich gebe mir alle Mühe. Denn ich habe furchtbare Angst davor, dass er mich wieder schlägt, wenn ich stolpere oder erneut weinen muss. Manchmal schluchze und schniefe ich, das kann ich nicht unterdrücken, und dann ziehe ich schnell den Kopf ein. Ich habe den Eindruck, der Mann hat keine Ahnung, wo wir sind und wo er hin will. Hier gibt es endlose Felder, Kiesgruben, kleine Seen, Golfplätze und Auen. Ich weiß, dass irgendwo in der Gegend der Main in den Rhein mündet.
    Dort wechseln sich Industrieanlagen mit kleineren und größeren Siedlungen ab, dazwischen liegen Gleisanlagen, Kleingärtnerkolonien und Brachflächen. Die Städte Mainz, Wiesbaden, Rüsselsheim und Hofheim bilden die Eckpunkte eines Quadrats, in dem wir in dieser Nacht herumirren. Immer wieder höre ich Verkehrslärm, immer wieder fliegen Flugzeuge über uns hinweg. Der Frankfurter Flughafen ist nicht weit entfernt, im Norden liegt das Wiesbaden Army Airfield. Manchmal tauchen Straßen auf, doch der Mann vermeidet es, gesehen zu werden. Immer warten wir, bis sich weit und breit kein Autolicht mehr zeigt, erst dann überqueren wir die Straße. Kommen Häuser in unser Blickfeld, schlagen wir uns um sie herum. Wie der kurvenreiche Verlauf eines Baches mäandern wir über die Felder. Meist ist die Erde tief verschneit und gefroren, in der Nähe von Gewässern bleiben wir fast im Matsch stecken.
    Ich bin müde und kann mich kaum mehr auf den Beinen halten. Wo mich der Schlag getroffen hat, brennt die Haut wie Feuer. Seit der Frage »Wo geht es nach Hochheim? Weißt du es?« hat der Mann kein Wort mehr gesagt. Ich zermartere mir den Kopf, was er von mir will. Die Gedanken an Flucht habe ich aufgegeben. Ich weiß, er wird mich einholen und mit einem Stein erschlagen. Aber wohin laufen wir? Und wenn wir dort sind, an diesem unbekannten Ort, was wird dann passieren?
    Ständig denke ich an meine Mama, meinen Papa, an Jenny. Ich frage mich, ob sie nach mir suchen. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich nicht, wie zuhause bereits alles in heller Aufregung ist. Ich weiß nicht, dass mein Papa die ganze Zeit auf dem Balkon gestanden hat, bis ihn der Schneesturm kurz vor Ankunft des Busses ins Haus trieb. Ich weiß nicht, dass Jenny um halb elf nach Hause kommt, im Glauben, dass ich schon lange im Bett liege. Ich weiß nicht, dass Papa sie fragt: »Wo um alles in der Welt ist Sascha?« Ich weiß nicht, wie allen der Schreck in die Glieder fährt. Und sie sich aufmachen, um die Nachbarn abzuklappern. Von diesen Dingen weiß ich nichts, während ich mit dem fremden Mann über die Felder haste, als würden wir von einer Armee verfolgt. Auf einmal schießt mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf: Was ist, wenn ich meine Eltern und meine Geschwister nie wiedersehe? Dieses »nie wieder« breitet sich in meinem Kopf aus wie ein schwarzes Loch. Es verdrängt alle anderen Gedanken. Es wird so übermächtig, dass ich nicht mehr
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