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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren
Autoren: Sascha Buzmann
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ich habe die Erinnerungen daran, so weit es mir möglich war, verdrängt.

25 Jahre später klingelt es an meiner Tür. Wieder ist Januar, wieder tobt draußen ein Schneesturm. Den Winter von 2010 werden die Menschen so schnell nicht vergessen. Schneereich ist er und eiskalt, und einige sprechen vom Jahrhundertwinter. In meiner gemütlichen Zweizimmerwohnung ist es mollig warm. Mein Blick geht aus dem Fenster hinüber zu den Höhen des Taunus. Dahinter liegen Wiesbaden und Mainz und, keine zehn Kilometer von mir entfernt, der Ort des Verbrechens. Doch daran denke ich nicht. Daran denke ich so gut wie nie. Und wenn ich es doch einmal tue, bringe ich mich ganz schnell auf andere Gedanken. Im Moment beschäftige ich mich mit einem neuen Job. Schon geraume Zeit arbeite ich als Kellner in der gehobenen Gastronomie, und vor mir liegt ein Angebot eines Mehrsternehotels in einem österreichischen Ferienort. Ich denke darüber nach, ob ich es annehmen soll. Die Bezahlung kann sich sehen lassen, sie ist deutlich besser als in vergleichbaren Häusern in Deutschland. Dafür werden die Arbeitsbedingungen hart sein wie immer. Der Beruf eines Kellners ist kein Zuckerschlecken, wir arbeiten, wenn andere ihre Freizeit genießen. In dem Wintersportort werde ich noch mehr Schnee sehen als hier, und eigentlich bin ich kein großer Freund der weißen Pracht. Also, soll ich, soll ich nicht? Ich kann mich nicht entscheiden und überlege mir, ob ich eine Münze werfen oder die Sache einfach ein paar Tage ruhen lassen soll. Es gibt viele Dinge, die ich ruhen lasse, selten entscheide ich mich schnell. In diesem Augenblick klingelt es. Ich blicke auf meine Uhr. Es ist 9:20 Uhr, das ist keine Zeit für meine Freunde. Von meinen Eltern oder meinen vier Geschwistern, die ganz in der Nähe wohnen, hat sich auch niemand angesagt. Dann wird es wohl der Postbote sein. Ein Päckchen vielleicht, obwohl ich mich nicht erinnern kann, etwas bestellt zu haben. Ich gehe zur Gegensprechanlage und melde mich.
    »Spreche ich mit Sascha Buzmann?«, klingt eine männliche Stimme blechern aus dem Lautsprecher.
    »Ja«, antworte ich und denke, das steht doch an der Klingel. Mit wem außer Sascha Buzmann sollst du sonst sprechen?
    Der Mann sagt: »Ich bin Journalist.« Er nennt den Namen eines bekannten deutschen Nachrichtenmagazins. »Ich würde mich gerne mit Ihnen über Ihre Entführung unterhalten.«
    Mir stockt der Atem. Alles habe ich erwartet an diesem Morgen, aber nicht das. Auf gar keinen Fall, schießt es mir durch den Kopf, ganz gewiss werde ich mich nicht mit irgendeinem Fremden über meine Entführung unterhalten. Ich unterhalte mich mit überhaupt niemand über meine Entführung. Ich weiß nichts über meine Entführung, ich kann mich nicht erinnern, ich will mich nicht erinnern, lassen Sie mich in Ruhe!
    Ich stehe in einer gebückten, unbequemen Haltung vor der Gegensprechanlage. Jetzt drehe ich mich um. Mein Blick schweift durch meine Wohnung. Sie ist mein kleiner, sicherer Hafen. Schön habe ich es hier, das sagt jeder, der mich besuchen kommt. Ich bin nicht reich, aber habe mir mein Zuhause gut eingerichtet. Es ist sauber. Manche sagen sogar, bei dir ist es peinlich sauber, aber so mag ich es. Sehe ich irgendwo Schmutz, greife ich zum Lappen und putze ihn weg. Leistet er Widerstand, höre ich nicht auf, bis das letzte Fleckchen verschwunden ist. Schmutz ist das Allerletzte, was ich brauchen kann, weil es damals so schmutzig war, weil dieser Mann so schmutzig war, weil ich so schmutzig war …
    »Herr Buzmann? Sind Sie noch da?« Ich zucke zusammen. Für einen Augenblick hatte ich mich im Wohnwagen befunden, der 86 Tage lang mein Verlies gewesen war. Der Wohnwagen des Entführers. »Herr Buzmann?«
    Nein, ich antworte nicht. Irgendwann geht der Störenfried bestimmt wieder. Er hat mich für heute schon genug aus der Bahn geworfen. Ich habe mir mein Leben mühsam aufgebaut und muss alles davon fernhalten, was mich aus dem Gleichgewicht bringt. Es gibt vieles, das mich aus dem Gleichgewicht bringen kann. Also, nicht antworten. Doch da ist auch eine Stimme, die etwas anderes sagt. Es ist 25 Jahre her, sagt sie. Ein Vierteljahrhundert. Vielleicht ist es an der Zeit, sich zu erinnern. Vielleicht ist es an der Zeit, sich den Dämonen zu stellen.
    Nein! Ganz gewiss werde ich das nicht tun! Ich werde an den Tisch zurückgehen, ich werde den Arbeitsvertrag des österreichischen Hotels unterzeichnen, ich werde meinen Koffer packen, und ich werde sofort
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