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Finger, Hut und Teufelsbrut

Finger, Hut und Teufelsbrut

Titel: Finger, Hut und Teufelsbrut
Autoren: Tatjana Kruse
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    Gestatten: Die Leiche!
    Tja, sie hatte immer gedacht, sie würde an ihrem 111 . Geburtstag sterben, in ihrer Strandvilla an der Ostsee, und ihr vierter Ehemann wäre darüber so bestürzt, dass er die Uni schmeißen würde.
    Aber nun lag sie hier, in eisiger Zugluft und auf kalten Holzdielen, mit froststeifen Fingern das Messer in ihrem Bauch umklammernd.
    Positiv war nur zu vermerken, dass der Tod eines der wenigen Dinge war, die man auch bequem im Liegen erledigen konnte.
    Und dass man als Leiche in Ruhe über all die Dinge meditieren konnte, die im eigenen Leben schiefgelaufen waren. Zum Beispiel, wie es sein konnte, dass man mit einem Schwarzafrikaner im biblischen Sinne »ein Fleisch« wurde, dann aber ein asiatisch-gelbes Baby mit Mandelaugen auf die Welt brachte. Sah so die Strafe des Himmels für vorehelichen Geschlechtsverkehr aus?
    »Sie ist tot!« Tayfun Ünsel, der sich über sie beugte, flüsterte es mehr, als dass er es deklamierte. »Tot!«
    Er schluchzte auf. Das war so nicht geprobt und einen Tick schmierenkomödiantisch.
    Aber die Leiche sagte dazu nichts.
    »Nur die Guten sterben jung«, murmelte er erschüttert.
    »Lauter!«, rief eine Stimme von fern. »Man hört ja gar nichts!«
    Das war jetzt doch des Guten zu viel: Karina Seifferheld schnaubte genervt.
    »Pst!«, warnte El Presidente, der in diesem Agatha-Christie-Stück den biederen Colonel gab, und stellte sich vor sie, damit die Zuschauer in der ersten Reihe das zornige Augenbrauenwackeln der vermeintlichen Leiche nicht mitbekamen.
    » NUR DIE JUNGEN STERBEN GUT !«, brüllte Tayfun Ünsel seine Textzeile erneut, wenn auch mit leicht sinnentfremdetem Inhalt.
    Tayfun spielte die Frau des Colonels (ja, eine Frauenrolle, weswegen er kurz vor der Enterbung durch seinen konservativ-türkischen Vater stand).
    »Eine verdammt unschöne Geschichte«, konstatierte der Colonel (alias El Presidente, den alle so nannten, weil er der Leiter des Theaterrings war) und richtete sich auf. Er zog eine Meerschaumpfeife aus seiner Jackentasche. Das heißt, er wollte sie herausziehen, aber sie hatte sich im Innenfutter der Jacke verfangen. El Presidente ruckelte und zerrte – jeder echte Schauspieler hätte längst aufgegeben und einfach weitergespielt, doch der Theaterleiter lernte seinen Text haptisch, konnte sich also ohne die dazugehörigen Bewegungen an keine einzige Textzeile erinnern, und für seinen anstehenden Monolog brauchte er nun mal die Pfeife. Also zog El Presidente unter Einsatz all seiner Kräfte weiter, bis die Jackentasche riss und die Hand mitsamt Pfeife herauskatapultiert wurde, nicht mehr rechtzeitig abbremsen konnte und schwungvoll gegen Tayfun Ünsels Stirn klatschte.
    Tayfun torkelte nach hinten, stolperte, drehte sich im Kreis und ging mit dem Gesicht nach vorn zu Boden. Er landete unsanft auf Karina, die als echte Profi-Leiche keinen Mucks von sich gab. Dafür brummte Ünsel senior in Reihe sieben ungnädig, weil die Ünsels ein osmanisches Kriegergeschlecht waren und ein echter Ünsel zurückgeschlagen hätte, auch und gerade auf einer Theaterbühne.
    Tayfun rührte sich nicht. Also, er als Gesamtheit rührte sich nicht, gewisse Teile seiner Anatomie aber schon. Er schwärmte bereits seit langem für die ausgeflippte, spontane, in keine Schublade zu steckende Karina, und dass sie ein Kind von einem anderen bekommen hatte, änderte nichts an seinen Gefühlen. Wie sehr hatte er sich immer gewünscht, einmal so auf ihr zum Liegen zu kommen – nicht unbedingt angezogen und nicht unbedingt vor fast 100 fremden Menschen, aber trotzdem …
    Jedenfalls blieb er einfach liegen.
    Das Publikum verstand das miss. Ein Mann ganz außen rechts in der dritten Reihe sprang auf und rief: »Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!«
    Das ging natürlich nicht.
    Tayfun, dieser wackere Nachfahre wilder osmanischer Krieger, war zwar volljährig und ausgewachsen, aber auf seinen Wangen spross kein Bart, sondern nur Flaum, was ihn für Frauenrollen geradezu prädestinierte, ihn aber im wirklichen Leben seit neuestem dazu veranlasste, immer einen Tick zu testosteronlastig zu agieren, damit auch ja alle merkten, dass sie es mit einem echten Kerl (!) zu tun hatten. Er rappelte sich auf, zog das hochgerutschte, fluffige Blümchenkleid rasch über die verdächtige Ausbuchtung, stellte sich breitbeinig hin, stemmte die Hände in die Hüften und rief in sonorer Ben-Cartwright-Tonlage: »Nichts passiert, Leute, nichts passiert.« Man meinte fast, von fern
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