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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren
Autoren: Sascha Buzmann
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Das haben wir schon häufig so gemacht, daher weiß ich, wenn Katrin in Wallau aussteigt, muss ich noch fünf Stationen weiterfahren. Als wir in den Bus steigen, bemerken wir den Mann. Er sieht verwahrlost aus, wie einer der Bettler, die ich bei einem Ausflug in Wiesbaden am Bahnhof sah. Sein Bart ist lang und struppig, seine Haare fallen in fettigen Strähnen herab. Katrin und ich suchen uns eine freie Sitzbank ein paar Meter von ihm entfernt.
    »Guck nur, wie der aussieht«, flüstert Katrin. Dann vergessen wir den Mann. Katrin fragt mich, was ich zu Weihnachten gekriegt habe, und ich schwärme ihr von meinen Geschenken vor. »Masters-of-the-Universe-Figuren«, erzähle ich stolz. »He-Man und Skeletor. Und die Burg.« Katrin lacht. Ich mag sie, weil sie immer fröhlich ist. »Hast du den Typen beim Rollschuhlaufen gesehen?«, fragt sie. »Der sah auch aus wie He-Man.«
    Wir überlegen uns, wann wir das nächste Mal ins »Roll On« können. Ich übe Sprünge und Rückwärtsfahren und bin begierig darauf, Fortschritte zu machen. Mit dem Finger zeichne ich He-Man mit Rollschuhen auf die angelaufene Fensterscheibe. Dahinter sehe ich das Wirbeln der Schneeflocken. »Heute schneit es nur einmal«, sagt Katrin. »Ich muss jetzt aussteigen. Mach’s gut, Sascha.«
    Wir sind in Wallau angekommen. Der Bus hält, Katrin steht auf, und mit ihr steigt eine Handvoll Menschen aus. Als ich mich noch einmal nach ihr umdrehe, sehe ich wieder den Mann mit dem wilden Bart. Er starrt mich an, aber ich achte nicht darauf. Viel mehr denke ich darüber nach, was Mama wohl zum Abendessen macht. Nach dem Rollschuhlaufen komme ich immer mit einem Bärenhunger nach Hause. Die nächsten fünf Haltestellen nehme ich gar nichts mehr wahr. Dann hält der Bus, und ich steige aus, wo ich schon so oft ausgestiegen bin: in Wiesbaden-Delkenheim. Ich gehe vor zum Busfahrer. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass der verwahrloste Mann im Mittelausgang den Bus verlässt, aber mache mir keine Gedanken darüber. Die bunten Lichter des Supermarktes neben der Haltestelle fallen mir auf, weil darin die Schneeflocken so schön tanzen.
    Am Laden vorbei führt mein Weg zum Spielplatz. Von dort sind es nur noch ein paar Schritte nach Hause. Als ich losmarschiere, habe ich auf einmal ein seltsames Gefühl. Es ist, als sei ich … als wäre etwas … nein, ich kann es nicht einordnen. Aber das Gefühl zwingt mich, stehen zu bleiben und mich umzudrehen. Da sehe ich den Mann mit dem wirren Bart, wie er ebenfalls stehen bleibt und sich umdreht. Der Busfahrer schließt die Türen und fährt los. Die Leute, die mit uns ausgestiegen sind, sind schon in Richtung Supermarkt verschwunden oder gehen über die Straße in die andere Richtung. Bei diesem Wetter hat es jeder eilig, nach Hause zu kommen. Nur der Mann und ich sind noch in der Nähe der Haltestelle. Ich bücke mich, forme einen Schneeball und werfe ihn in die Luft. Das bringt mich auf andere Gedanken. Kann ich einen Schneeball so hoch werfen, dass er im Himmel verschwindet? Wenn er das tut, wird er dann irgendwann wieder herabfallen? Ich mache den nächsten Schneeball, und während ich loslaufe, werfe ich ihn, so weit ich kann. Schon ist der nächste Schneeball dran. Und der nächste. Als ich den Spielplatz erreiche, habe ich den Fremden vergessen. Rund um den Platz stehen Laternen. Als ich sie erreiche, nehme ich seitlich von mir einen Schatten wahr. Er bewegt sich ganz langsam. Wieder kommt das seltsame Gefühl auf. Auf einmal höre ich eine Stimme in meinem Kopf. Es ist die Stimme meines besten Freundes Thorsten. Er sagt: »Das hat dich!« Ich wirble herum. Der Schatten ist verschwunden.
    »Das hat dich!«, höre ich Thorsten noch einmal sagen, und jetzt ist es, als sei er neben mir. Dabei ist es ein halbes Jahr her, als er diese seltsamen Worte sprach. Es war mitten im schönsten Sommer gewesen, wir streunten mit seiner Schwester durch den Sauerkirschhain in der Nähe unserer Siedlung und schwärmten von den Kirschen, die wir uns einverleiben wollten.
    »Schau doch, dort!«, sagte Thorsten plötzlich. Vor uns lag ein Kadaver. Er war halb verwest, und es war nicht mehr auszumachen, um was für ein Tier es sich gehandelt hatte. Es könnte ein kleiner Fuchs gewesen sein, einer von denen, die sich immer über die Mülltonnen hermachten. Oder ein Wiesel oder ein Siebenschläfer. Oder eine große Ratte. Das Fell war von Maden überzogen. Die Augen starrten leblos vor sich hin. Ein Fliegenschwarm hockte auf dem Kadaver
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