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Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba
Autoren: Christoph Hardebusch
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IN DEN SCHATTEN
von Gesa Schwartz
    Der Himmel über der Weißen Klippe stand in flammenden Farben. Donnernd schoben sich die Wolken ineinander, der Sturm peitschte das Meer auf und trieb Regenschleier über das Land, und immer wieder zuckten grelle Blitze durch die Nacht, als wollten sie die Welt wie eine Leinwand auseinanderreißen. Es war ein Wetter zum Davonlaufen, ein Wetter, das sämtliche Halblinge des Dorfes in ihren Häusern hielt und sie dazu brachte, sich am Morgen noch zweimal umzudrehen, ehe sie auch nur einen großen Zeh vor die Tür setzten – und es war genau das richtige Wetter für Rima, um eingewickelt in ihren Mantel auf dem Findling der Klippe zu sitzen und das Schauspiel mit einer Mischung aus Furcht und Faszination zu beobachten.
    Für gewöhnlich war das Wetter im Kleinen Tal gemäßigt wie die Wesen, die in diesem Landstrich lebten, doch nun lag eine seltsame Anspannung in der Luft, ein dumpfes Grollen, das tiefer war als das Wüten des Unwetters und das die Schatten zwischen den Felsen und den Bäumen des Nachtwaldes dunkler färbte. Rima schien jeder Blitz wie eine Ankündigung von etwas Anderem zu sein, für das sie noch keine Worte hatte, und sie knetete in unbestimmter Vorfreude ihre Finger. Eigentlich sollte sie in diesen Augenblicken in der Backstube ihres Onkels stehen und ihm ohne jegliches Talent dabei helfen, winzige Kringel, Törtchen und Laugenbrezeln zu backen, aber das Gewitter tauchte die Welt in Feuerfarben, und spätestens als Elmsfeuer die spitzen Felsen der Klippe ergriffen hatten und der Himmel von einem purpurfarbenen Blitz zerrissen worden war, hatte sie nichts mehr in der Stube gehalten. So schnell sie konnte, hatte sie das Dorf hinter sich gelassen und war den steilen Klippenpfad hinaufgeeilt. Da saß sie nun und sah den Wolken zu, deren groteske Formen Ungeheuer aus lang vergangener Zeit heraufbeschworen und die mit ihrem Donner den Boden zum Beben brachten, als wohnten Trolle im Inneren der Klippe. Rima hatte die Stollen der Alten Zwergenmine gegen jedes Verbot ihres Onkels oft genug durchstreift, um zu wissen, dass es dort unten nichts mehr gab, nur noch Fledermäuse und Rattendreck. Aber in Momenten wie diesen gab sie sich dem Gedanken hin, wie es wohl wäre, wenn es all jene Wesen noch gäbe, die sie nur aus Geschichten kannte, weil sie die Bekannte Welt vor langer Zeit verlassen hatten. Ein Wetter wie dieses würde ihr Kommen ankündigen, daran zweifelte sie nicht, und sie musste lächeln, als die Stimme ihres Vaters in ihr widerklang.
    Man kann nie wissen, was sich in den Schatten verbirgt , hatte er immer gesagt und auf diese rätselhafte Art gelächelt, die er sich während seiner Reisen angeeignet hatte. Vielleicht war es nicht nur die Trauer um seine Frau, sondern auch die Neugier auf die Dunkelheit gewesen, die ihn zu dem Abenteurer gemacht hatte, der er geworden war. Er hatte viele Wunder darin gefunden, und er hatte die uralte Magie noch gefühlt, die einst alles durchdrungen haben sollte, lange vor Rimas Geburt. Von seinem Volk misstrauisch beäugt, war er nie müde geworden, seiner Tochter von seinen Erlebnissen zu erzählen, und sie hatte nie genug davon bekommen können, ihm zuzuhören. Nachdenklich strich sie über den rauen Stein des Findlings. Ihr Vater hatte dieses Wetter geliebt. Früher hatten sie oft gemeinsam an diesem Ort gesessen und dem Wolkenspiel zugeschaut – früher, als sie noch klein gewesen war, und später war er häufig allein hierherauf gekommen, umtost von Donner und Sturm. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie verloren sein silberner Ring auf diesem Felsen gewirkt hatte, glimmend wie ein Abschiedswort in der Dämmerung, das er für sie zurückgelassen hatte. Es war ein Wetter wie dieses gewesen in jener Nacht, in der er sie verlassen hatte.
    Mittlerweile hatte der Donner nachgelassen. Grünes und safrangelbes Licht brachte die Wolken zum Leuchten, und Rima wandte den Blick nach Westen, dorthin, wo die Farben des Himmels am hellsten waren. Sie kannte alle Legenden über die Länder, die angeblich hinter dem Meer lagen, und obwohl sie nicht mehr daran glaubte, dass die Toten dort ihre letzte Ruhe fanden, überkam sie beim Blick zum Horizont doch immer der übermächtige Drang, über ihn hinausschauen zu wollen. Sie seufzte leise, denn sie sah das Gesicht ihres Onkels vor sich, dieses liebenswerten Halblings mit Kugelfigur, der sich nach dem Tod ihres Vaters aufopfernd um sie gekümmert hatte. Über ihre Abenteuerlust jedoch
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