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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren
Autoren: Sascha Buzmann
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direkt. Sie sagen: »Na los, du Knalltüte, erzähl mal.« Aber ich kann nicht. Ich schäme mich. Irgendwann merken sie, dass nichts kommt. Wie langweilig. Komm, spielen wir Fußball. Spielen wir Cowboy und Indianer. Gehen wir runter zum Wickerbach. Aber Vorsicht! Die letzten Tage strich die Bande aus Wallau dort rum.
    Dann kommt Martin und kräht: »Meine Mama hat gesagt, ich darf nicht mit dir spielen. Meine Mama hat gesagt, du bist beschädigt.«
    Alle schauen mich an, was ich jetzt tue. Ich weiß nicht, was beschädigt bedeutet, aber ich kann es mir denken. Nichts Gutes. Ich würde zu gerne wissen, woher die Mama von Martin das weiß, schließlich habe ich nichts erzählt. Hat sie es von den Polizisten? Aus dem Protokoll? Selbst gelesen, genehmigt und unterschrieben von Sascha Buzmann? Die Gedanken rasen durch meinen Kopf. Sicher haben die Polizisten der Mama von Martin das Protokoll gegeben. Ganz sicher kriegen es auch andere. So sehr fährt mir der Schreck in die Glieder, dass ich nichts tun kann, obwohl mich alle anstarren. Da macht Thorsten einen Schritt nach vorne. »Du bist ja so was von einem blöden Stinksack«, sagt er zu Martin. Alle lachen, weil Thorsten die besten Ausdrücke kennt. Er nimmt Martin in den Schwitzkasten und wirft ihn zu Boden. Alle feuern Thorsten an und rufen: »Stinksack, Stinksack!«
    Nur ich nicht. Ich stehe abseits und gehöre nicht dazu, obwohl sich alles um mich dreht. Vielleicht hat die Mama von Martin das gemeint mit »beschädigt«.
    Zwar spiele ich wie die anderen. Zwar renne ich wie die anderen. Zwar schreie ich herum wie die anderen. Trotzdem merke ich, dass ich anders bin. Ich denke zu viel. Dauernd denke ich voraus. Ich versuche, um die Ecke zu denken. Was passiert, wenn … oder wenn nicht … oder vielleicht doch …
    Das wird noch schlimmer, als ich wieder in die Schule muss. Ich gehe in eine neue Klasse, um das Schuljahr zu wiederholen. Dort sind andere Kinder. Was werden sie fragen? Was werden sie wissen wollen? Haben ihre Mamas das Protokoll auch schon gelesen? Sagen ihre Mamas, spiel nicht mit dem, der ist beschädigt? Weil ich so viel denken muss, kann ich noch weniger reden.
    »Er ist so still«, sagt Mama zu Papa. Dann weint sie, und mir wird klar: Ich sollte mehr sprechen. Wenn ich nicht spreche, wird sie traurig. Also strenge ich mich an, aber es will mir nicht gelingen.
    Dann kommt der große Tag. Das Schuljahr steht vor der Tür, sagen alle. In der neuen Klasse ist das Geschrei riesengroß. Nicole ist dort, aber der Platz neben ihr besetzt. Die Lehrerin winkt mich nach vorne. Da soll ich sitzen. Wie gerne wäre ich unsichtbar. Ich habe die Blicke der Kinder im Rücken. Ein Junge schreit plötzlich: »Das ist doch der, der entführt wurde.« Ich fühle mich schmutzig. Ich fühle mich ausgelacht. Ich fühle mich extrem.
    Obwohl ich die Klasse wiederhole, zähle ich noch immer zu den Kleinsten. Ein Pimpf bin ich. Aber ich kann so was von schnell rennen! Ich kann so was von weit springen! Nach einem Monat sind Bundesjugendspiele, und wir müssen die fünfzig Meter laufen. Ich bin schnell. Ich bin sauschnell. Ich bin schneller als mein Schatten. Ich bin der Schnellste der Schule, und am nächsten Tag hängt das Ergebnis am Schwarzen Brett.
    Platz 1: Sascha Buzmann.
    Ich stehe davor und kann es nicht glauben. Ich bin der Beste? Keiner war schneller als ich? Um mich herum stehen meine neuen Klassenkameraden. Sie hauen mir auf die Schulter. Sie johlen. Sie sind stolz darauf, dass ich in ihrer Klasse bin.
    Ich bin angekommen.
    Ich beginne mit Judo und spiele Tischtennis und Fußball. Zuhause ist alles, wie es davor war. Ich vergesse immer häufiger, dass es ein Davor und Danach gibt. Zwar kriege ich immer noch viele Geschenke, und im Kühlschrank steht Pudding, der nur für mich ist. Doch langsam wird alles wieder normal. Ich kann schlafen. Ich denke immer seltener an den Wohnwagen. Oder an Adam G. Und was er mit mir gemacht hat.
    Die Jahre vergehen. Ich bin immer noch schnell auf den Beinen. Ich bin ein Sport-Ass. Ich gewinne Preise im Tischtennis. Dann ändern sich die Dinge. Sie ändern sich langsam, fast unmerklich. Erst wird die Welt jeden Tag ein wenig grauer. Und kälter. Auf einmal habe ich eine Zigarette zwischen den Lippen. Da bereite ich mich gerade auf meine Konfirmation vor. Wir haben Unterricht und sollen einen Leitspruch aussuchen. Ich lese seit einiger Zeit in der Bibel und habe meinen schon gefunden: den Psalm vom guten Hirten. In der Kirche sind
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