Schockgefroren
nagelneuen Football. Als wir im Auto sitzen, winke ich ihnen zu, und sie winken zurück. Ich habe das Album, ich habe den Football, und ich weiß wieder, was Spaß bedeutet. Ich habe viel gelacht.
Was kann schöner sein?
Weihnachten kommt und geht, Silvester kommt und geht. Ich sitze bei meinen Aufzeichnungen. Die türmen sich vor mir, hier ein Stapel, dort ein Stapel, dazwischen Zeitungsberichte und Filmkassetten, denn inzwischen wurde der neue Film ausgestrahlt. An manche Ereignisse erinnere ich mich mittlerweile gut, an andere nur schemenhaft. Ich rede mit dem Schriftsteller darüber. Er gibt mir Tipps. Probiere das mal aus. Und das. Und denk daran: Es ist eine Sache, Erinnerungen wachzurufen. Und eine andere, sie auszuhalten. Der Schriftsteller sagt, dafür hilft das Schreiben. Was einmal geschrieben ist, kriegt dich nicht mehr.
Also schreibe ich. Draußen steigen Raketen in die Höhe, und die Menschen feiern das neue Jahr. Ich schreibe: Seltsam eigentlich. Die Stelle vor dem Haus, wo mich Geist erwischte – da hatte ich keine Angst davor.
Bei den amerikanischen Kindern habe ich Freiheit geschnuppert, jetzt will ich mehr.
Ich will meinen Kinderhimmel wiederhaben, draußen spielen und rennen und sorglos sein. Ich will vor die Tür, aber Mama sagt: »Das geht nicht.«
Warum geht das nicht?
Weil, weil, weil. Sie hat tausend Argumente, weshalb ich das Haus nicht verlassen soll. Und wenn, nur in Begleitung. Mit ihr. Oder Papa. Oder Jenny. Aber Jenny ist nicht da, und Papa arbeitet. Mama hat anderes zu tun. Ich hocke in der Wohnung herum, und das ist kaum anders, als im Wohnwagen rumzuhocken. Dabei wollen meine Beine laufen! Meine Füße möchten gegen einen Ball treten!
»Nein«, sagt Mama. »Hab noch ein wenig Geduld.«
Stattdessen muss ich nach Wiesbaden zum Mann mit den Farbklecksen. Ich habe keine Lust dazu. Ich bin bockig. Ich verstehe nicht, was er von mir will. Lass mich in Ruhe mit deinen Klecksen! Auf der Heimfahrt meint Papa, ich solle wenigstens versuchen, die Fragen des Psychiaters zu beantworten. Das würde mir ganz sicher guttun. Aber ich verstehe ihn nicht, Papa! Ich will lieber raus und Fußball spielen.
Mama sagt, nein, das geht nicht. Auf keinen Fall geht das.
Mama ist ängstlich. Mama ist ein richtiger Angsthase! Ich darf nicht raus, dafür bekomme ich Geschenke. Ich freue mich über die Geschenke, aber dann stehe ich doch wieder am Fenster und schaue sehnsuchtsvoll durch die Scheibe. Draußen scheint die Sonne. Draußen spielen meine Freunde. Meine Freunde von früher. Ich will zu ihnen.
»Warte noch«, bittet Mama, »bis ein bisschen Zeit ins Land gezogen ist.«
Ich will nicht warten. Ich werde zornig. »Soll ich ein Leben lang in der Wohnung hocken?«, schreie ich.
Mein Bruder kommt und redet mit Mama. Meine Schwestern reden mit Mama. »So geht das nicht«, sagen sie. »Irgendwann muss Sascha auch wieder raus.«
Da gibt Mama nach. Es fällt ihr schwer, wer kann es ihr verdenken? Aber sie weiß, dass die anderen recht haben. Ich darf hinaus, und plötzlich frage ich mich, will ich das wirklich? Was ist, wenn meine Freunde mich fragen? Wenn sie wissen wollen? Um Himmels willen, daran habe ich gar nicht gedacht! Wieder schäme ich mich für alles, was passiert ist, als ob meine Freunde schon jetzt davon wissen .
»Was ist los, Sascha?«, fragt Mama. »Willst du doch nicht raus?«
Doch, ich will raus. Nein, ich will nicht! Will doch! Will nicht! Ich kann mich nicht entscheiden, aber am Ende siegen meine Beine. Die haben ein Recht auf Geschwindigkeit. Ich mache alleine die Wohnungstür hinter mir zu. Ich gehe alleine durchs Treppenhaus. Ich trete alleine vor die Haustür. Das alles habe ich schon einhunderttausendmillionenmal getan, aber heute ist trotzdem das erste Mal. Ich trete vor die Tür und blicke am Haus hoch. Mama steht auf dem Balkon. Ich mache ein paar Schritte und noch ein paar Schritte und noch ein paar Schritte. Ich komme an die Stelle, wo mich Adam G. erwischte – und denke an nichts. Ich habe keine Angst. Ich gehe daran vorbei, denn da vorne sehe ich Thorsten. Der sieht mich ebenfalls, schreit »Hey, Sascha«, kommt rübergerannt, schwitzt und lacht und sagt: »Wir machen grade Tipp-Topp. Zwei Mannschaften, Spiel auf ein Tor. Los, komm, du fehlst!«
Meine Beine laufen schon. Sie laufen so schnell wie nie zuvor. Schneller, als Mama die Hand vor den Mund bringen kann, weil ich aus ihrem Blickfeld verschwinde.
Meine Freunde sind anders als Mama und Papa. Sie sind
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