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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen
Autoren: Jess Walter
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zweitausend Jahre alten Buch, na und? Aber das heißt noch lange nicht, dass er nicht wahr ist. Wer weiß, vielleicht ist er dadurch sogar wahrer.«
    Angetrieben vom Glauben seiner Mutter an ihn und von der niedrigen Dosis selektiver Serotoninwiederaufnahmehemmer, die er seit einer Weile nahm, hatte Shane einen Geistesblitz, den man nur als Epiphanie bezeichnen konnte:
    Waren nicht Filme der Glaube seiner Generation – ihre wahre Religion? War nicht das Kino unser Tempel, der einzige Ort, den wir getrennt betreten und aus dem wir zwei Stunden später zusammen herauskommen konnten, mit der gleichen Erfahrung, den gleichen gelenkten Gefühlen, der gleichen Moral? Millionen Schulen unterrichteten nach Millionen Lehrplänen, Millionen Kirchen hatten zehntausend Sekten mit einer Milliarde Predigten – aber auf der ganzen Welt lief der gleiche Film. Und wir alle sahen ihn uns an! In diesem unvergesslichen Sommer brachte jedes Lichtspielhaus die gleichen thematischen und erzählerischen Gefüge – den gleichen Avatar , den gleichen Harry Potter , den gleichen Fast & Furious –, flackernde Bilder, die sich in unseren Kopf brannten und unsere eigenen Erinnerungen verdrängten, archetypische Geschichten, die zu unserer gemeinsamen Geschichte wurden, die unsere Erwartungen an das Leben prägten und unsere Werte bestimmten. Was war das anderes als eine Religion?
    Außerdem brachten Filme mehr Geld als Bücher.
    Und so beschloss Shane, sich mit seinem Talent nach Hollywood zu wenden. Zunächst setzte er sich mit seinem alten Literaturprofessor Gene Pergo in Verbindung, der, gelangweilt von seiner Existenz als Lehrer und verkannter Essayist, einen Thriller mit dem Titel Night Ravagers (Zombies in frisierten Autos durchstreifen Los Angeles auf der Suche nach überlebenden Menschen, die sie versklaven können) geschrie ben und die Filmrechte für mehr Kohle verkauft hatte, als er in der Hochschulwelt und bei Kleinverlagen in einem Jahrzehnt verdiente, und seine Lehrtätigkeit mitten im Semester an den Nagel gehängt hatte. Damals war Shane im zweiten Jahr seines Masterstudiums, und Genes Abgang war ein echter Skandal an der Fakultät, denn Dozenten und Studenten waren gleichermaßen verschnupft darüber, wie Gene auf die ganze Hochkultur geschissen hatte.
    Shane spürte Professor Pergo in LA auf, wo er gerade den zweiten Teil seiner Trilogie fürs Kino adaptierte – Night Ravagers 2: Straße der Rache (3-D). Gene meinte, dass er in den letzten zwei Jahren von »so ziemlich jedem Studenten und Kollegen, mit dem ich je Kontakt hatte« gehört hatte; und als Erste riefen die an, die sich besonders über seine literarische Abdankung echauffiert hatten. Gene verwies Shane auf den Filmagenten Andrew Dunne, auf Bücher über Screenwriting von Syd Field und Robert McKee und, was am wertvollsten war, auf das Kapitel über das richtige Präsentieren von Ideen aus der inspirierenden Autobiografie des Produzenten Michael Deane: Der Weg des Deanes: Wie ich das moderne Hollywood nach Amerika pitchte und wie auch Sie den Erfolg in Ihr Leben pitchen können. Vor allem eine Stelle aus Deanes Buch – »In diesem Raum müssen Sie nur an sich selbst glauben. SIE sind Ihre Geschichte« – regte Shane dazu an, sein altes HANDLE -Selbstbewusstsein wieder aufleben zu lassen, an seinem Pitch zu feilen, sich nach Apartments in LA umzusehen und sogar seinen alten Literaturagenten anzurufen. (Shane: Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Bücher für mich offiziell erledigt sind. Agent: Ich informiere das Nobelkomitee. )
    Und heute erntet Shane den Lohn für all diese Mühen mit seinem allerersten Pitch bei einem Hollywoodproduzenten, und nicht bloß irgendeinem Produzenten, sondern Michael Deane persönlich – oder zumindest bei Deanes Assistentin, Claire Soundso. Heute wird Shane Wheeler mit Claire Soundsos Hilfe den ersten Schritt aus der muffigen Besenkammer der Literatur in den hell erleuchteten Ballsaal des Films machen – sobald er sich entscheiden kann, was er anziehen soll.
    Wie aufs Stichwort ruft Shanes Mutter die Treppe herunter: »Dad ist fertig für die Fahrt zum Flughafen.« Als er nicht antwortet, versucht sie es erneut: »Du willst doch nicht zu spät kommen, Schatz.« Dann: »Ich hab arme Ritter ge macht.« Und: »Weißt du noch immer nicht, was du anziehen sollst?«
    »Bin gleich da!« Aus purer Frustration – in erster Linie über sich selbst – kickt Shane nach dem Kleiderhaufen. Und in der folgenden Stoffexplosion segelt das
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