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Naechte der Leidenschaft + Berlins Blut

Naechte der Leidenschaft + Berlins Blut

Titel: Naechte der Leidenschaft + Berlins Blut
Autoren: Ivy Anderson
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Sankt Petersburg am 31. Dezember 1916

    Mama schien nicht mehr bei Sinnen zu sein. Sie zuckte sprachlos, als rang sie um Worte. War uns die Welt am Morgen trotz des Krieges noch warm, licht und wundervoll vorgekommen, drang nun die Düsternis der Vergänglichkeit unbarmherzig durch jede Ritze. Das Grauen lauerte um uns herum und streckte seine Krallen aus.
    Ljoschka, der mein Bruder und zugleich der kleine Zarewitsch war, hatte sich angstvoll an unsere Mutter gepresst. Ihre Weinattacken wurden von heftigen Krämpfen begleitet. Sein Haar war ganz nass von ihren Tränen. Sogar auf seiner blauen Matrosenuniform, die er am liebsten trug, zeigten sich dunkle Flecken.
    Wir wagten kein Wort zu sagen – gleich Kaninchen beim Anblick des Fuchses – und warteten gebannt und voller Schrecken auf das Kommende. Eine Standuhr schlug im Nebenraum. Der tiefe Gong erinnerte mich an die Glocken des Friedhofs. Meine feinen Haare auf den Armen standen zu Berge. So musste es sich anfühlen, wenn der Tod tatsächlich nahte.
    Da ich mit einundzwanzig Jahren die Älteste von uns Geschwistern war, musste ich mich aber zusammennehmen. Auch ich wollte eigentlich weinen und mich so erleichtern, doch das Alter und meine Rolle in der Familie forderten äußerliche Disziplin.
    Wer sollte den anderen Halt geben, wo schon Mama uns alle so erschreckte? Ihr Zusammenbruch ließ uns die Unsicherheit der gesamten Welt, die Verletzlichkeit unserer kleinen Familie erkennen. Alle Vorstellungen waren letztlich nur Konstrukte – wie Häuser, die aus Klötzen errichtet wurden. Entfernte man ein tragendes Teil, brach gleich das ganze Gebäude zusammen.
    „Sein Segen wird mich auf dem schmerzvollen Weg begleiten, den ich hienieden noch zu wandeln habe“, flüsterte Mama mystisch.
    Mich fröstelte. Was war der Sinn dieser Worte? In diesem Moment war noch nicht klar, dass nur zehn Wochen später eine Revolution die verborgene Bedeutung offenlegen würde.
    Endlich vernahmen wir die lange erwarteten Schritte. Es waren seine. Wir alle wandten unsere Köpfe und sahen zu der großen, mit Intarsien verzierten Doppeltür. Nur unsere Mutter vergrub das Gesicht weiterhin im Haar von Ljoschka.
    Die großen hölzernen Flügel öffneten sich knarrend.
    Papa war extra aus dem Kriegsquartier herbeigeeilt, um uns zu trösten. Er warf uns besorgte Blicke zu, stürzte aber sofort zu Mama. Der Anblick seiner Gemahlin entsetzte ihn am meisten. Unser Vater, der Zar von Russland, rang um Fassung, versuchte dem Chaos aber einen Rest an Stärke und Normalität entgegenzustellen, genau wie ich. Er war schließlich das Rückgrat Russlands, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Armee, des Staates, der Romanows und unserer kleinen Familie.
    „Was kann ich tun?“
    Er wusste, dass jede andere Frage in diesem Moment unpassend wäre. Papa war äußerst klug. Mama war mehr deutsch im Charakter und hatte seit der Begegnung mit Rasputin einen starken Hang zum Mystizismus. In den letzten Jahren hatte sich dieser sogar dem rationalen Handeln als überlegen erwiesen.
    Ohne sie und ihren Glauben an den Wunderheiler wäre mein kleiner Bruder längst gestorben. Gegen den Widerstand von Papa, seinen Beratern, den Ärzten und sogar mir hatte sie Rasputins Wunderkräften vertraut. Unsere Mutter hatte damit Recht gehabt und dadurch dem Zarewitsch mehrfach das Leben gerettet. Es gibt zwar noch immer viele angeblich aufgeklärte Zweifler, doch Rasputins Wunder wurden inzwischen von unseren besten Ärzten und Wissenschaftlern bestätigt. Ich selbst sah sie mehrfach.
    Es gab in Russland keinen Mann wie ihn. Gott hatte dem sibirischen Priester eine ganz besondere Fähigkeit geschenkt, aber leider auch ein abscheuliches Benehmen. Dieses stellte er jedoch bei Mama zurück. In ihrer Gegenwart benahm Rasputin sich ganz anders. Sie hatte das beste Bild von ihm, denn er war schließlich der Retter des Thronfolgers, ihres einzigen Sohnes. Alle anderen hatten versagt.
    Ganz zaghaft erhob Mama ihren Kopf. Unendlich langsam kehrte ihr Blick aus einer anderen Welt in diese zurück und färbte sich sofort mit grenzenlosem Hass, als sie ihren Mann gewahrte.
    „Töte diese Bestien!“, brach es aus ihr heraus.
    Papa versteinerte und auch wir waren entsetzt. War das unsere Mutter? Mama hatte nie Todesurteile akzeptiert. Sie war selbst immer für die Abschaffung solcher Strafen in Russland eingetreten und nun forderte sie diese? Wir wussten, wen die Zürnende meinte. Es ging um unsere eigenen Verwandten und
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