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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen
Autoren: Jess Walter
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wurden. Auch danach hatten sie noch einige gute Jahre, doch Amedeas letztes Jahrzehnt zerrann ihnen zwischen den Fingern wie feiner Sand.
    Zuerst versäumt Amedea nur, einzukaufen oder die Tür zu verriegeln, dann findet sie das Auto nicht mehr, und schließlich vergisst sie Zahlen, Namen und den Gebrauch von Alltagsgegenständen. Er tritt ins Zimmer und sieht sie mit dem Telefon – ohne eine Ahnung, wen sie anrufen wollte und, später, wie das Gerät funktioniert. Eine Zeitlang schließt er sie ein, und dann gehen sie einfach nicht mehr aus dem Haus. Er merkt, dass er ihr allmählich entgleitet, und er fühlt sich verirrt im schimmernden Nebel der Identität (Wird er nicht mehr existieren, wenn seine Frau ihn nicht mehr erkennt?) . Das letzte Jahr wird zur unerträglichen Qual. Jemanden zu betreuen, der keine Ahnung hat, wer man ist, ist die reine Hölle – die Last der Verantwortung, waschen, Essen reichen … alles , und je mehr ihre Auffassungsgabe schwindet, desto schwerer wird die Bürde, bis sie nur noch ein Ding ist, ein schweres Ding , das er auf dem letzten gemeinsamen Lebensabschnitt bergan schleppen muss; als ihn seine Kinder zuletzt dazu überreden, sie in ein Pflegeheim in der Nähe ihres Hauses zu bringen, weint Pasquale vor Kummer und Schuldbewusstsein, doch auch vor Erleichterung und Schuldbewusstsein über diese Erleichterung, vor Kummer über sein Schuldbewusstsein, und auf die Frage der Betreuerin, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen, um das Leben seiner Frau zu erhalten, kann Pasquale gar nicht antworten. Also nimmt Bruno, der liebe Bruno, seinen Vater an der Hand und sagt zu der Schwester: Wir sind bereit, sie gehen zu lassen. Und sie geht tatsächlich, während Pasquale sie jeden Tag besucht und mit diesem leeren Gesicht redet, bis eines Tages, als er sich gerade fertig macht für den Besuch, der Anruf kommt, dass sie gestorben ist. Die Nachricht erschüttert ihn mehr, als er es für möglich gehalten hätte, und ihre endgültige Abwesenheit berührt ihn wie ein grausamer Trick, als hätte er damit gerechnet, dass nach ihrem Tod die alte Amedea zurückkehren wird; stattdessen bleibt nur ein Loch in ihm. Ein Jahr vergeht, und Pasquale versteht endlich die Trauer seiner Mutter nach Carlos Hingang – so lang hat er in der Wahrnehmung seiner Frau existiert, dass er nur noch Leere in sich fühlt. Es ist der tapfere Bruno, der in seinem Vater den eigenen Kampf gegen die Depression wiedererkennt und ihn drängt, sich an den letzten Augenblick zu erinnern, in dem er das Sein ohne Bezug zu seiner geliebten Amedea empfunden hat, an den letzten Augenblick unabhängiger Seligkeit oder Sehnsucht –, und Pasquale antwortet ohne Zögern: Dee Moray. Wer? , fragt Bruno, der die Geschichte natürlich nie gehört hat. Pasquale erzählt seinem Sohn alles, und wieder ist es Bruno, der seinen Vater auffordert, nach Hollywood zu reisen und in Erfahrung zu bringen, was aus der Frau auf dem alten Foto geworden ist, und ihr zu danken –
    Mir danken? , fragt Debra Bender, und Pasquale grübelt eine Weile nach, um die richtigen Worte für seine Antwort zu finden: Als ich dich kennenlernte, habe ich in Träumen gelebt. Und als ich dem Mann begegnet bin, den du geliebt hast, habe ich meine eigene Schwäche in ihm erkannt. Was für ein Paradox! Wie konnte ich deiner Liebe würdig sein, nachdem ich mein Kind im Stich gelassen hatte? Deswegen bin ich zurück zu Amedea gegangen. Und es war das Beste, was ich je getan habe.
    Sie versteht ihn: Am Anfang ihrer Tätigkeit als Lehrerin empfand sie es als Opfer, ihre Wünsche zugunsten der Ambitionen ihrer Schüler aufzugeben. Doch dann habe ich festgestellt, dass es eigentlich mehr Freude bereitet und die Einsamkeit weniger werden lässt. Deswegen waren die letzten Jahre, in denen sie das Theater in Idaho geleitet hat, so erfüllt. Und genau das findet sie so bewegend an Lydias Stück: Es nähert sich der Idee, dass wahre Opfer nicht wehtun.
    Drei Stunden sitzen sie so und reden nach dem Abendessen, bis sie müde wird und sie zum Hotel gehen. Sie schlafen in getrennten Zimmern, denn sie sind beide nicht sicher, was daraus werden soll – ob in dieser Phase ihres Lebens überhaupt noch etwas daraus werden kann –, und am Morgen beim Kaffee reden sie über Alvis (Pasquale: Er hatte recht damit, dass Touristen den Ort ruinieren werden ; Dee: Er war wie eine Insel, auf der ich eine Zeitlang gelebt habe. ). Im Café beschließen sie, eine Wanderung zu machen, doch zuerst
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